Die Türme der Mitternacht
Sie hatte sich nicht der Prüfung unterzogen, und das hatte sie auch nicht vor. Aber wenn sie es getan hätte, was, wenn sie gezwungen gewesen wäre, sich einer derartigen Situation zu stellen? Wäre sie zerbrochen? Hätte sie sich dem Mantel unwürdig erwiesen, den sie zu tragen behauptete?
»Wie ich sehe, bist du verstockt und willst nicht reden«, sagte Mesaana. »Nun, das kann man ändern. Diese Adam. Wunderbare Geräte. Es war so großartig von Semirhage, mich auf sie hinzuweisen, auch wenn das nur zufällig geschah. Eine Schande, dass sie starb, bevor ich ihr einen um den Hals legen konnte.«
Ein scharfer Schmerz schoss durch Egwenes Körper, als würde eine Feuersbrunst unter ihrer Haut wogen. Tränen traten in ihre Augen.
Aber sie hatte schon zuvor Schmerzen ertragen und gelacht, wenn man sie schlug. Sie war schon zuvor eine Gefangene gewesen, sogar in der Weißen Burg selbst, und die Gefangenschaft hatte sie nicht aufhalten können.
Aber das hier ist anders! Der größere Teil von ihr war voller Angst. Das ist das Adam! Ich kann ihm nicht widerstehen!
Das muss eine Aes Sedai aber, erwiderte die leise Stimme in ihr. Eine Aes Sedai kann alle Dinge ertragen, denn nur dann kann sie wahrlich die Dienerin aller sein.
»Also«, sagte Mesaana. »Sag mir, wo du das Gerät versteckt hast.«
Egwene brachte ihre Furcht unter Kontrolle. Es war nicht einfach. Beim Licht, es fiel so schrecklich schwer! Aber sie tat es. Ihre Miene wurde ganz ruhig. Sie trotzte dem A’dam, indem sie ihm keine Macht über sie gewährte.
Stirnrunzelnd zögerte Mesaana. Sie riss an der Leine, und noch mehr Schmerzen überfluteten Egwene.
Sie ließ sie verschwinden. »Mir ist der Gedanke gekommen, Mesaana«, sagte sie ruhig, »dass Moghedien einen Fehler machte. Sie akzeptierte das Adam.«
»Was soll das…«
»An diesem Ort ist ein A’dam so bedeutungslos wie die Gewebe, die es verhindert«, fuhr Egwene fort. »Es ist nur ein Stück Metall. Und es hält einen nur dann auf, wenn man akzeptiert, dass es das tut.« Das A’dam sprang auf und fiel von ihrem Hals.
Mesaana sah zu, wie es klirrend auf dem Boden landete. Ihr Gesicht erstarrte und wurde eiskalt, als sie wieder zu Egwene hochschaute. Beeindruckenderweise geriet sie nicht in Panik. Mit unbeteiligtem Blick verschränkte sie die Arme. »Also hast du hier geübt.«
Egwene erwiderte ihren Blick.
»Du bist trotzdem ein Kind«, sagte Mesaana. »Du glaubst, du kannst mich besiegen? Ich bin länger in Tel’aran’rhiod gewandelt, als du dir vorstellen kannst. Du bist was … zwanzig Jahre alt?«
»Ich bin die Amyrlin«, erwiderte Egwene.
»Eine Amyrlin für Kinder.«
»Die Amyrlin einer Weißen Burg, die seit Tausenden von Jahren Bestand hat. Tausende Jahre Schwierigkeiten und Chaos. Trotzdem hast du den größten Teil deines Lebens in einer Zeit des Friedens und nicht des Krieges gelebt. Schon seltsam, dass du dich für so stark hältst, wo doch so viel von deinem Leben so leicht war.«
»Leicht?«, fragte Mesaana. »Du weißt gar nichts.«
Keine von ihnen senkte den Blick. Egwene fühlte, wie sie etwas bedrängte, genau wie zuvor. Mesaanas Willenskraft, die ihre Unterwerfung forderte. Der Versuch, mithilfe von Tel’aran’rhiod die Art und Weise zu verändern, auf die Egwene dachte.
Mesaana war stark. Aber an diesem Ort war Stärke eine Sache der Perspektive. Mesaanas Wille setzte ihr zu. Aber Egwene hatte das A’dam besiegt. Sie konnte auch dem hier widerstehen.
»Du wirst dich fügen«, sagte Mesaana leise.
»Du irrst dich«, erwiderte Egwene angespannt. »Hier geht es nicht um mich. Egwene al’Vere ist ein Kind. Aber die Amyrlin ist es nicht. Ich mag jung sein, aber der Sitz ist uralt.«
Keine der Frauen brach den Blickkontakt. Egwene übte nun ebenfalls Druck aus, verlangte, dass sich Mesaana vor ihr verneigte, vor der Amyrlin. Die Luft um sie herum fühlte sich unvermittelt schwer an, und als sie sie einatmete, erschien sie irgendwie dickflüssig.
»Alter ist irrelevant«, sagte sie. »Bis zu einem gewissen Punkt ist sogar Erfahrung irrelevant. Bei diesem Ort geht es darum, was eine Person darstellt. Die Amyrlin ist die Weiße Burg, und die Weiße Burg wird sich nicht beugen. Sie trotzt dir, Mesaana, dir und deinen Lügen.«
Zwei Frauen. Die sich mit Blicken maßen. Egwene hörte auf zu atmen. Sie musste nicht atmen. Alles war auf Mesaana konzentriert. Schweißperlen rannen ihre Schläfen hinunter, jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt, während sie
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