Die Tuerme des Februar - Phantastischer Roman

Und jede Galerie …«
    Ich ging jedoch zuerst zu der Zellentür hinüber und schaute durch das Fensterchen. Drei fensterlose Wände im Dämmerlicht – eine vor mir und je eine rechts und links. Kein Fußboden. Keine Decke.
    »Weshalb ist hier kein Zimmer?«, flüsterte ich. Wenn man sich vorstellt, dass man die Türe öffnen könnte und hineingehen würde … Die Füße würden ins Leere treten und man würde tief hinabstürzen.
    Beruhigend legte mir Herr Avla seine Hand auf die Schulter. »Man hat festgestellt«, sagte er, »dass durch das ganze Gebäude ein Schacht verläuft, von unten nach oben. Auf jeder Etage befindet sich eine Tür zu diesem Schacht. Außerdem gibt es einen kleinen Raum, so eine Art Schachtel, die an Kabeln befestigt ist …«
    Ich hatte den Eindruck, die Kabel zu sehen, die ziemlich dick und schwarz von oben, aus dem Nichts, hinunterführten – möglicherweise zu dem Boden des kleinen Zimmers im Parterre.
    »Wahrscheinlich gehörte einmal ein Mechanismus dazu, mit dessen Hilfe der kleine Raum nach oben und unten bewegt werden konnte – von einer Etage zur anderen. Einige Wissenschaftler haben tatsächlich an eine bewegliche Gefängniszelle gedacht, während viele andere dies für unwahrscheinlich hielten.« Herr Avla unterbrach seinen Besichtigungskommentar und fragte leise: »Erinnerst du dich an nichts?«
    »Nein.«
    »Du sagtest aber doch, dass du die beiden Türme kennst … Na ja. Dann wollen wir mal nach draußen auf die Galerie gehen.«
    Der Turmwächter öffnete eine der Glastüren, und dann ging ich mit ihm die Galerie entlang, so wie ich es bei den anderen Leuten beobachtet hatte. Dort mündeten eine Menge Türen; durch die Fenster blickte ich in leere Zimmer.
    »Können wir da hinein?«
    »Natürlich. Aber viel gibt’s da nicht zu sehen.«
    »Ich möchte aber trotzdem hinein.«
    »Ja, gleich.« Herr Avla schaute sich um; dann lehnte er sich über die Brüstung und blickte hinunter auf sein Haus. »Komm, stell dich einmal neben mich, Tim.«
    Ich tat, was er sagte. Vielleicht, so dachte ich im Stillen, heiße ich doch Tim?
    »Hier kann uns niemand hören«, sagte Herr Avla. »Ich habe dir einen Namen gegeben und du bist allen anderen Leuten gegenüber mein Neffe aus Engelland – merk dir das bitte. Denn es gibt da etwas, worüber du Bescheid wissen musst: Es ist hier streng verboten, kein Erinnerungsvermögen zu haben. Hast du mich verstanden?«
    Nein, ich verstand es nicht.
    »Wer sein Gedächtnis verliert, ist in Gefahr; er wird verfolgt und gefangen genommen.«
    Ich schaute zu Herrn Avlas Hütte hinüber und wünschte, ich wäre schon wieder dort anstatt hier auf der zugigen Galerie. In Gedanken sah ich mich in der Zelle, die innerhalb des Schachtes auf- und niederschwebte (es stimmt, dass der Schacht bis zur zwölften Etage durchgeht). Verfolgt und gefangen . »Und warum?«
    »Du bist etwas Einmaliges – und darum werden sie es dir übel nehmen, dass du vergessen hast, wer du bist.«
    Ich dachte darüber nach.
    »Aber nun tu mir bitte den Gefallen, nicht daraus zu schließen, dass du etwas Besonderes bist«, sagte Herr Avla. »Jeder Mensch ist einmalig, ich geradeso gut wie du. Niemand darf seinen Namen und seine Erinnerungen vergessen; das ist ein ernstes Vergehen. Aber hab keine Angst. Du hast ja nun einen Namen, und deine Erinnerungen denken wir uns schon aus, bis deine eigenen zurückkehren.«
    »Weshalb helfen Sie mir eigentlich?«
    »Weil ich gerne Gesetze umgehe. Oder vielmehr, ich versuche zu zeigen, dass diese Gesetze nicht richtig sind. So bin ich nun einmal. Das steht fest – so fest wie ein Haus.«
    »Wie welches Haus? Das da«, ich zeigte hinunter auf die windschiefe Hütte, »oder dieses hier?«
    »Hör mal, mein Junge, glaubst du allen Ernstes, was du da sagst? Ein Haus? Das hier? Dieser Turm? Mit fast tausend Zimmern? Meinst du das tatsächlich? Dass ich nicht lache.« Aber er lachte trotzdem, wenn auch ein wenig kichernd und unnatürlich.
    Ich wusste nicht, ob ich in sein Gelächter einstimmen sollte oder nicht. Es war ja auch ein verrückter Einfall von mir gewesen. Obwohl … Schließlich könnten eine Menge Menschen in solch einem Turm mit tausend Zimmern wohnen. Sehr viele Leute, zu viele Leute. Außerdem würden sich ihre Behausungen sehr ähnlich sehen … Unheimlich, sich das vorzustellen.
    »Aber diese Türme sind doch zu irgendeinem Zweck gebaut worden?«, sagte ich und Herr Avla wurde sofort wieder ernst. Er blickte mich von der Seite an; er