Die Tulpe des Bösen
und an einigen Stellen war der Unterschied zwischen einer vorgelagerten Insel und einer ins Meer reichenden Landzunge kaum zu erkennen.
Katoen beugte sich tiefer über die Karte und folgte mit dem Zeigefinger dem Verlauf der Küste, bis er plötzlich stutzte – da stand es deutlich in fetten schwarzen Buchstaben: ORA TULIPARUM. Selbst seine bescheidenen Erinnerungen an den Utrechter Lateinunterricht reichten aus, um das zu übersetzten: TULPENKÜSTE.
Obwohl er es geahnt hatte, kniff er die Augen zu und sah noch einmal genau hin. Vielleicht hatte er sich verlesen, vielleicht hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt – aber nein, dort stand noch immer ORA TULIPARUM.
Der Küstenstrich, den die beiden Wörter bezeichneten, lag nördlich der Insel Rhodos und ragte weit ins Meer hinein. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Katoen dort zwei winzige schwarze Symbole. Eins stellte eine Festung dar, das andere eine Tulpe.
»Ist es das, was Ihr gesucht habt?«
Das war Felix, den er in seiner Erregung ganz vergessen hatte. Der Junge kauerte in Katoens weichem Sessel und beobachtete ihn mit großen Augen.
»Das ist es, wahrhaftig! Aber woher weißt du das? Und woher hast du die Karte und das Buch?«
Bevor Felix antworten konnte, klopfte jemand an die Wohnungstür, und sie hörten die Witwe Gerritsen rufen: »Mijnheer Katoen, ich bringe das Frühstück.«
»Mach ihr auf«, wies Katoen den Jungen an.
Felix sprang aus dem Sessel und verließ das Wohnzimmer, während Katoen hastig die Karte zusammenrollte und, zusammen mit dem Buch, zurück in den Lederbeutel steckte. Als Felix die Tür öffnete, legte Katoen den Beutel auf die Anrichte unter dem Fenster.
Die Hauswirtin stellte ein großes Holztablett mit Brot, Butter, Käse, Schinken und Milch auf den Tisch und blieb abwartend stehen, den Blick in unverhohlener Neugier auf Felix gerichtet.
Katoen nickte ihr lächelnd zu. »Danke, das ist sehr freundlich von Euch.«
»Ich bin doch gern behilflich«, sagte die Witwe Gerritsen und zog sich widerwillig zurück.
»Du siehst sehr hungrig aus, Felix, und mir geht es ebenso.« Katoen deutete auf den Tisch mit dem Tablett. »Wir wollen erst einmal frühstücken.«
Das ließ der Junge sich nicht zweimal sagen. Er griff mit solch einem Eifer zu, daß Katoen ihn schließlich ermahnte, langsamer zu essen, weil er sich um das Wohlbefinden seines unerwarteten Gastes sorgte.
Als sie fertig waren, lag kaum noch ein eßbarer Krümel auf dem Tablett. Felix rekelte sich wohlig im Sessel und rülpste laut. Er erschrak sichtlich und blickte Katoen ängstlich an.
»Nicht schlagen!« bat er. »Bitte, nicht schon wieder schlagen!«
»Weder habe ich dich geschlagen, noch habe ich das vor«, erwiderte Katoen verwirrt, aber dann begriff er und fragte: »Haben sie dich im Waisenhaus geschlagen?«
Felix schluckte und nickte.
»Oft?«
Der Junge nickte abermals.
Katoen erinnerte sich an seine eigene Zeit im Waisenhaus. Besonders am Anfang war es schlimm gewesen. Man verstieß leicht gegen die vielen Regeln, wenn man neu war. Die meisten Lehrer und Aufseher nahmen darauf keine Rücksicht, teils aus Gleichgültigkeit, teils weil sie überfordert waren. Auch er hatte damals Schläge bekommen, viele Schläge. Der Schmerz und das erbärmliche Gefühl, allein und vollkommen hilflos zu sein, waren auf einmal wieder gegenwärtig.
Als er Felix ins Waisenhaus gebracht hatte, war das in der besten Absicht geschehen. Er hatte dem Jungen etwas Gutes tun wollen, und nach seinem Dafürhalten war für Felix alles besser als sein bisheriges Dasein als Schaustück oder menschliches Werkzeug für einen Halunken wie Jaepke Dircks. Aber daran, daß die Anfangszeit im Waisenhaus besonders hart war, hatte er nicht gedacht. Vielleicht, weil er selbst sich, wenn er dort auch nie glücklich gewesen war, doch irgendwann im Waisenhaus eingewöhnt hatte. Aber es hatte Kinder gegeben, die an dem strengen Reglement und den Bestrafungen zerbrochen waren. Sie waren fortgelaufen, einige wieder und wieder, bis sie schließlich zur vermeintlichen seelischen Ertüchtigung ins Rasphuis gesteckt worden waren. Oder sie waren innerlich verkümmert und hatten sich von allem abgekapselt, so daß Schmerz und Kummer nicht mehr zu ihnen durchdrangen.
Besorgt blickte er Felix an und fragte: »Hast du Schmerzen?«
»Ja«, antwortete der Junge leise.
»Wo?«
Felix deutete auf seinen Rücken.
Katoen kniete sich neben ihn und hob vorsichtig erst das Wams und dann das Leibhemd
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