Die Tulpe des Bösen
ihn verwundert an. »Ihr kennt diesen … Streuner, Mijnheer Katoen?«
»Ja, ich kenne ihn, und Ihr könnt ihn ruhig zu mir lassen.«
»Das wußte ich ja nicht, und ich wollte Euren Schlaf nicht stören. Ich dachte … ich meinte …«
Katoen bedachte sie mit jenem entwaffnenden Lächeln, dem sie nie widerstehen konnte. »Schon gut, Mevrouw Gerritsen, Ihr habt alles richtig gemacht. Wenn Ihr mir einen Gefallen tun wollt, so bereitet uns beiden ein kräftiges Frühstück. Ich glaube, Felix kann das ebensogut gebrauchen wie ich.«
»Aber gern«, sagte die Hauswirtin, lächelte zurück und schien mit sich und der Welt versöhnt. Als allerdings Felix an ihr vorbei ins Haus ging und dabei deutliche Schmutzspuren hinterließ, umwölkte sich ihre Stirn.
Nach einem kurzen Blick hinaus auf den Botermarkt, der im Nieselregen und im nicht mehr ganz so dichten Nebel trostlos wirkte, ging Katoen mit dem Jungen hinauf in seine Wohnung. Erst als sie in seinem Wohnzimmer standen, fragte er Felix, was der von ihm wolle.
»Solltest du nicht eigentlich im Waisenhaus sein? Und überhaupt, wie siehst du aus? Gar nicht wie ein ordentliches, folgsames Kind.«
Falls sein Tadel den Jungen traf, ließ der sich das nicht anmerken. Beinahe trotzig hielt er Katoen den Beutel hin, der recht schwer zu sein schien.
»Für mich?« fragte Katoen erstaunt.
Felix nickte zweimal.
Katoen legte den Beutel auf den Tisch und öffnete ihn. Er enthielt eine zusammengerollte Karte, ähnlich denen, die er in der Nacht im Austausch gegen die Wechsel erhalten hatte, und ein schweres Buch, offenbar sehr alt und in dickes Leder gebunden. Er schlug es auf und stellte fest, daß es von Hand geschrieben war, und zwar in Latein. Sein Onkel Adalbert hatte ihn für ein paar Jahre auf eine Lateinschule geschickt, aber das war lange her. Das Buch zu lesen würde ihn einige Mühe kosten. Immerhin gelang es ihm ohne große Anstrengung, den auf der ersten Seite in großer Schrift vermerkten Titel zu übersetzen: Bericht des Kreuzfahrers Guillaume de Vailly über seine Erlebnisse während der Belagerung von Akkon und auf der beschwerlichen Heimreise nach dem Fall der Stadt im Jahre des Herrn 1291.
Katoen holte tief Luft und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Schweißperlen von der Stirn. Er konnte kaum glauben, was Felix ihm da gebracht hatte! Plötzlich fühlte er sich wie im Fieber. Er las den Titel noch einmal. Hatten seine Augen ihm vielleicht einen Streich gespielt? Nein, es war tatsächlich das alte Manuskript, von dem Sybrandt Swalmius ihm erzählt hatte, der Bericht jenes Kreuzfahrers, der durch widrige Umstände an die Tulpenküste verschlagen worden war. Der Bericht, dessen Angaben es Joan Blaeus Vater vermutlich ermöglicht hatten, eine Karte von jener geheimnisvollen Küste anzufertigen.
Katoen überlegte, was er von der Belagerung Akkons wußte, aber das war nicht viel. Seiner Erinnerung nach war es die letzte Bastion der Christen im Heiligen Land gewesen und schließlich von den Mameluken erobert worden. Diese letzte Schlacht schien der Verfasser der Handschrift miterlebt zu haben. Was Katoen aber vor allem lesen wollte, war die Beschreibung seiner Erlebnisse auf der beschwerlichen Heimreise.
Auf der folgenden Seite fand er seine Vermutung durch die farbige Zeichnung einer Tulpe bestätigt: schwarze Blütenblätter mit blutroten Tupfen! Er erinnerte sich, daß Swalmius die Zeichnung erwähnt hatte. Sein Blick verharrte lange auf dem Bild, war es doch das erste Mal, daß er nicht nur ein einzelnes Blütenblatt der seltsamen Tulpe sah. Vielleicht stand er zu sehr unter dem Eindruck der Tulpenmorde, aber beim Anblick des Bildes spürte er das, was Swalmius beschrieben hatte: das Böse, das von dieser Blume ausging.
Er hätte sich gern länger mit dem Buch beschäftigt und mußte sich regelrecht zwingen, es beiseite zu legen. Aber da war noch die Karte, die er näher in Augenschein nehmen mußte. Er entrollte sie auf dem Tisch. Unten links prangte ein verschnörkelter Schriftzug: ›Guilielmus Blaeu‹. Das war der Name, mit dem Willem Blaeu seine Arbeiten gekennzeichnet hatte, Katoen hatte ihn schon auf einigen anderen Karten gesehen.
Mit wachsender Erregung beugte er sich über die bunte Karte. Es war eine große Seekarte, die über die Hälfte des Tisches einnahm. Sie zeigte einen Teil der Küste des Osmanischen Reiches, wo dieses an das Ägäische Meer mit seinen vielen kleinen Inseln grenzte. Die Küste selbst sah reichlich zerklüftet aus,
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