Die Tulpe des Bösen
der Wände gekettet, hockte Vestens auf der schmalen Pritsche, die als Schlafstätte und Sitzgelegenheit zugleich diente. Auf dem Boden neben ihm lag ein Stück Schwarzbrot neben einer Holzschale. Der wenig appetitlich anzusehende Brei in der Schale war nicht angerührt worden; der Holzlöffel stand fast aufrecht darin wie ein Soldat auf Wache.
»Habt Ihr keinen Hunger, Mijnheer?« fragte Katoen spöttisch. »Nun ja, vielleicht ginge es mir an Eurer Stelle ähnlich.«
Vestens sah ihn grimmig an. »Seid Ihr gekommen, um mich zu verhöhnen?«
»Nicht nur, vor allem möchte ich ein paar Antworten von Euch.«
»Worauf?«
»Auf alle Fragen, die man zu den Kartenschnappern nur stellen kann. Wie groß ist die Bande? Wer gehört dazu? Wo sind die Männer zu finden?«
»Warum sollte ich Euch das alles sagen?«
»Ihr könntet Eure Lage erheblich verbessern. Wenn Ihr mir vorbehaltlos Rede und Antwort steht, werde ich vor Gericht ein gutes Wort für Euch einlegen. Außerdem erspart Ihr Euch damit einiges.«
»Wovon sprecht Ihr, Katoen?«
»Hier unten haben noch fast alle geredet. Nicht umsonst nennt man dies hier den Geißelkeller. Beantwortet Ihr meine Fragen gleich, erspart Ihr Euch einiges an Schmerz.«
Vestens lachte heiser.
»Was amüsiert Euch so?«
»Euer sonniges Gemüt, Katoen. Ihr droht mir mit Schmerzen, dabei ist das, was ich von den Kartenschnappern zu erwarten habe, sollte ich auspacken, weitaus schlimmer. Mögen sie in der letzten Zeit auch nicht mehr groß in Erscheinung getreten sein, ihr Ehrenkodex ist nach wie vor intakt, und er ist sehr streng. Auf Verrat steht der Tod!«
»Im Zusammenhang mit solchen Gaunern und Halsabschneidern von Ehre zu sprechen erscheint mir gewagt.«
»So? Was versteht Ihr unter Ehre? Ist das, was Joan Blaeu mir angetan hat, vielleicht ehrenvoll?«
»Er hat Euch etwas angetan?« wiederholte Katoen fassungslos. »Was denn? Daß er Euch Lohn und Brot gegeben und immer für Euch gesorgt hat? Ihr seid ja vollkommen verblendet, Vestens, Ihr verwechselt Täter und Opfer!«
Damit verließ er die schmale Zelle, denn er hatte eingesehen, daß mit dem Mann in seiner augenblicklichen Verfassung nicht zu reden war. Vestens hatte sich seine eigene Moral geschaffen, der zufolge er der Gute war und Joan Blaeu der Böse. Vielleicht würden ein paar Tage im Geißelkeller ihn eines Besseren belehren, und vielleicht würden ein paar Peitschenhiebe die Kruste seiner scheinheiligen Ansichten aufbrechen. Mit seinem Wissen über die Kartenschnapper war er auf jeden Fall ein wichtiger Gefangener. Bevor er den Keller verließ, schärfte Katoen den Wachen ein, besonders gut auf ihn aufzupassen.
Oben stieß er auf den Amtsrichter, der ihn zu sich heranwinkte.
»Was höre ich da, Jeremias, Ihr habt den engsten Vertrauten von Joan Blaeu verhaftet? Steht das im Zusammenhang mit den Tulpenmorden?«
»Mittelbar.«
»Das müßt Ihr mir genauer erklären, aber vielleicht nicht hier auf dem Gang. Kommt doch mit in mein Amtszimmer. Bis zu nächsten Verhandlung habe ich noch ein paar Minuten Zeit.«
Ein paar Minuten würden kaum ausreichen, um van der Zyl alles zu berichten. Trotzdem leistete Katoen seiner Aufforderung Folge und erstattete in knappen Worten Bericht über die wichtigsten Ereignisse und Zusammenhänge. Der Zeitpunkt, seinen Vorgesetzten in alles Wesentliche einzuweihen, war gekommen. Auch wenn Katoen bestrebt gewesen war, möglichst wenig Aufhebens um Vestens’ Verhaftung zu machen, ließ sich nicht vermeiden, daß in der Öffentlichkeit Gerüchte kursierten. Einige von Blaeus Angestellten hatten mitbekommen, daß Vestens als Gefangener zum Rathaus gebracht worden war. Sie würden es ihren Familien erzählen und ihren Freunden, und die würden es weiterverbreiten. Daß sich die Festnahme in der Werkstatt von Joan Blaeu ereignet hatte, einem der Amsterdamer Ratsherren, verhalf dem Tratsch zu zusätzlichem Nährboden. Falls in der Öffentlichkeit, vielleicht sogar im Magistrat, Fragen gestellt wurden, konnte Katoen froh sein, wenn der Amtsrichter ihm den Rücken freihielt.
Dessen Gesicht wurde, während Katoen sprach, immer länger, bis er schließlich aus seinem Stuhl aufstand und seine Kleider glattstrich. »Ich würde am liebsten sofort die ganze verwegene Geschichte hören, Jeremias, aber es geht beim besten Willen nicht. Vor mir liegt ein Nachmittag voller anstrengender Verfahren. Kommt doch heute abend zum Essen zu mir, damit wir in Ruhe über alles sprechen können. Aber treibt
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