Die Tulpe des Bösen
sondern um das Gehörte zu überdenken und zu bewerten. Auch vor Gericht hatte Katoen ihn schon mit geschlossenen Augen erlebt, und mancher Zuschauer hatte darüber seine Witze gemacht, daß der Amtsrichter eingeschlafen sei. Aber das stimmte nicht, van der Zyl war stets hellwach und konzentriert.
Offenbar war sein scharfer Verstand auf etwas gestoßen, das ihn störte. Er öffnete die Augen, beugte sich ruckartig nach vorn und sagte: »Etwas paßt nicht in diese Geschichte oder, besser gesagt, jemand.«
»Der Tulpenmörder, ich weiß«, seufzte Katoen. »Ich habe mir wieder und wieder den Kopf darüber zerbrochen, warum er diese Morde begeht und was das seltsame Zeichen zu bedeuten hat, das er dabei hinterläßt. Ich muß gestehen, Nicolaas, ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, morgen nachmittag an der Roten Mühle etwas schlauer zu werden.«
»Meint Ihr die alte Mühle an der Straße nach Utrecht? Ist das der Ort, an dem Joan Blaeu den geheimnisvollen Erpressern das Buch und die Seekarte aushändigen soll?« Als Katoen nickte, fuhr van der Zyl fort: »Und Ihr wollt wirklich als sein Gesandter dorthin gehen?«
»Bei den Kartenschnappern habe ich die Rolle schon einmal gespielt und Erfolg gehabt. Wer immer mich dort erwartet, vielleicht gelingt es mir, etwas aus ihm herauszubekommen, wenn ich ihm das Gewünschte überreiche.«
»Da Ihr es ansprecht, Jeremias, wo bewahrt Ihr die Karte und das Manuskript auf?«
»In meiner Wohnung.«
Van der Zyl runzelte die Stirn. »Habt Ihr dort denn einen sicher verschließbaren Schrank?«
Katoen grinste. »Das nicht, aber ein gutes Geheimversteck. Zwei lose Dielen in meinem Schlafzimmer. Aber laßt das bloß nicht meine Vermieterin hören, sonst läßt sie den Schaden umgehend reparieren.«
»Von mir erfährt sie nichts«, sagte der Amtsrichter lachend und fragte weiter: »Wie stellt Ihr Euch das Vorgehen morgen bei der Roten Mühle vor?«
»Das hängt davon ab, was und wer mich dort erwartet. Auf keinen Fall dürfen wir die Erpresser mit der Seekarte und dem Manuskript entkommen lassen.«
»Da stimme ich Euch zu.« Van der Zyl verteilte den Rest Burgunder auf ihre Gläser, aber es reichte nicht einmal, um sie halb zu füllen. »Auch wenn ich nicht ganz glauben mag, was Ihr von Swalmius und seiner Tochter über die unglaublichen Eigenschaften dieser Tulpe des Bösen gehört habt, allein die Möglichkeit, daß eine Gefahr von ihr ausgeht, ist beunruhigend genug.«
»Auf jeden Fall müssen unsere Männer das Gebiet um die Rote Mühle großflächig absperren, unauffällig natürlich und doch so, daß sie im richtigen Moment eingreifen können. Wir werden eine Reihe unterschiedlicher Signale vereinbaren, die ich geben werde, je nachdem, wie die Dinge sich entwickeln.«
»Ich werde dafür sorgen, daß genügend Männer zur Verfügung stehen«, versprach van der Zyl und hob sein Glas. »Trinken wir auf den morgigen Erfolg!«
Sie leerten ihre Gläser, und dann ging van der Zyl eine neue Karaffe holen. Der Wein darin war etwas dunkler als der Burgunder, und Katoen erkundigte sich nach der Herkunft.
»Probiert erst einmal, und dann versucht es zu erraten«, sagte der Amtsrichter und schenkte seinem Gast ein. »Ich bin gespannt auf Euer Urteil.«
Katoen führte das Glas zum Mund und nahm einen vorsichtigen Schluck, den er eine Weile im Mund behielt.
»Nun?« fragte van der Zyl.
»Ich glaube, der Burgunder liegt mir mehr. Dieser hier scheint mir etwas zu herb.«
»Das ist nach dem Burgunder ganz normal. Nehmt noch einen Schluck!«
Katoen kostete noch einmal, aber der herbe Geschmack blieb.
»Was denkt Ihr, Jeremias, wo kommt der Tropfen her?«
Van der Zyls Stimme hörte sich seltsam an, als käme sie aus weiter Ferne, als wäre der Nebel ins Haus eingedrungen, um auch hier alle Geräusche zu dämpfen. Katoen überlegte krampfhaft, was für ein Wein sich in seinem Glas befinden mochte, aber ihm wollte beim besten Willen kein einziges Weinanbaugebiet einfallen. Seltsam, wo er doch viele mit Namen kannte. Aber diese Namen erschienen ihm auf einmal schwer faßbar und ebenso weit weg wie der Amtsrichter und alles andere, was sich in diesem Raum befand. Selbst der Tisch, an dem er saß, schien sich von ihm zu entfernen und dabei in die Länge zu ziehen. Die Teller und Schüsseln, die auf ihm standen, veränderten ständig ihre Form, verbreiterten sich, flossen auseinander und zogen sich wieder zusammen.
Katoen wollte nach dem Tisch greifen und ihn festhalten, aber dabei verlor
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