Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
Vom Netzwerk:
er den Halt und fiel vom Stuhl. Das letzte, was er wahrnahm, war das scharfgeschnittene Gesicht des Amtsrichters, der sich über ihn beugte und dabei eher neugierig aussah als besorgt.
    Die Geräusche waren gar nicht in ihrem Kopf, waren nicht Bestandteil eines Traums. Irgendwann begriff sie es, und mit einem Mal war Greet Gerritsen hellwach. Sie hatte fest geschlafen, wie sie es meistens tat. Sie ruhte sich nicht unnütz aus, dazu war sie viel zu fromm. Die Prediger verkündeten es jeden Sonntag von der Kanzel herab: Gott liebte die Fleißigen. Und sie war fleißig, putzte und wusch, kaufte ein und kochte, schaffte und tat von der Frühe bis in den späten Abend, wenn sie sich mit dem guten Gefühl ins Bett legte, den Tag, den der Herr ihr geschenkt hatte, nicht verschwendet zu haben. Und als Dank dafür schenkte der Herrgott ihr einen gesunden Schlaf.
    Doch der war jetzt gestört worden durch das Geräusch von Schritten und das Knarren der Treppe, das immer dann besonders laut zu hören war, wenn jemand sich anstrengte, leise zu sein. Ihr erster Gedanke galt dem Mieter der Wohnung im ersten Obergeschoß, Jeremias Katoen.
    Als sie sich zu Bett begeben hatte, war er noch nicht zu Hause gewesen. Sie hatte bei ihm geklopft, um zu fragen, ob sie ihm ein spätes Abendessen bringen solle, doch er war nicht an der Tür erschienen. Wahrscheinlich steckt er mitten in wichtigen Ermittlungen, hatte sie sich gesagt. Sie war daran gewöhnt, daß er zu den unmöglichsten Zeiten heimkam, aber das warf sie ihm nicht vor, gewiß nicht, er tat ja nur seine Pflicht. Außerdem erfüllte es sie mit Stolz, daß ein so bedeutender Mann in ihrem Haus wohnte. Die Nachbarin zur Rechten, Tryntje Wijers, schaute immer ganz neidisch aus, wenn die Witwe Gerritsen ihr von dem Herrn Amtsinspektor erzählte.
    Aber kam das Knarren dort draußen wirklich von Jeremias Katoen? Er kannte doch die Tücken der Treppe und trat für gewöhnlich so leise auf, daß sie ihn nicht hörte. Jetzt erst kam ihr der Gedanke, es könnte sich um Einbrecher handeln. Sollte sie einfach so tun, als hätte sie nichts gehört? Nein, Greet Gerritsen war keine furchtsame Person, sie nicht!
    Sie schlug die dicke Daunendecke zurück, wälzte sich aus dem Bett und schlüpfte in die Filzpantoffeln, für die ihre Füße allmählich zu dick wurden. Dann schlüpfte sie in ihren schweren Schlafrock, stülpte eilig eine weiße Haube über ihr unordentliches Haar und lief in die Küche, wo sie ihr schärfstes Messer an sich nahm. Derart bewaffnet, schloß sie die Wohnungstür auf und trat hinaus ins Treppenhaus.
    Zwei Männer, Fremde, vergeblich bemüht, die Treppe möglichst leise zu erklimmen, drehten sich zu ihr um. Der Lichtschein einer Handlaterne blendete sie, und ihr kam der Gedanke, daß sie Mut mit Waghalsigkeit verwechselt haben mochte. Auch mit ihrem Messer würde sie gegen die beiden Fremden den kürzeren ziehen. Sollte sie laut um Hilfe rufen? Sie wußte, daß ihr anderer Mieter, der Maler David Timmers, zu Hause war. Er würde sie gewiß hören und ihr zu Hilfe eilen.
    Ein anderer Gedanke hielt sie davon ab, um Hilfe zu rufen. Der Junge schlief hinten in der kleinen Kammer. Auch er würde sie hören und wohl herauskommen. Sie wollte nicht riskieren, daß dem Kind, das Katoen in ihrer Obhut zurückgelassen hatte, etwas zustieß.
    Die beiden Fremden schienen ebenfalls nicht recht zu wissen, was sie tun sollten. Einfach weglaufen konnten sie nicht, stand sie ihnen doch im Weg. Vielleicht war es besser, wenn sie sich schnell in ihre Wohnung zurückzog und die Tür verschloß.
    Während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schossen, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, daß die beiden Männer sehr ordentlich gekleidet waren. Einer war um die Vierzig und trug einen Bart um Mund und Kinn. Der andere mochte erst Mitte Zwanzig sein, hatte ein glattes Gesicht und frönte zur Freude der Witwe Gerritsen nicht der modischen Unsitte vieler junger Männer, die ihr Haar neuerdings bis weit über die Schultern herunterhängend trugen. Solch ein Erscheinungsbild hatte sie von Einbrechern nicht erwartet.
    Der ältere der beiden lächelte plötzlich. »Entschuldigt die späte und unziemliche Störung, Mevrouw Gerritsen. Wir wollten Euch nicht aufwecken und schon gar nicht erschrecken. Aber die Treppe – Ihr habt es ja wohl gehört. Bitte vergebt uns, falls wir Euch durch unser ungeschicktes Verhalten geängstigt haben.«
    Auch solch ausgesuchte Höflichkeit hatte sie von Einbrechern nicht

Weitere Kostenlose Bücher