Die Tulpe des Bösen
sprach zu ihm, aber die Worte vibrierten in seinem Kopf wie ein Lied, das jemand viel zu laut, viel zu schnell und viel zu falsch sang. Jede Silbe ein Schmerz.
Sein vernebelter Blick, der nichts als wabernde Schemen wahrnahm, klärte sich allmählich, und die Stimme, die zu ihm sprach, wurde erträglicher, wenn sie auch immer noch so undeutlich hallte, daß er kein Wort verstand. Immerhin erkannte er, daß es die Stimme eines Mannes war, und das Gesicht, das sich vor ihm aus dem Nebel schälte, war auch das eines Mannes: scharfgeschnitten, dominiert von einer großen, etwas gebogenen Nase. Wie ein Raubvogel, der sich gleich auf sein Opfer stürzen wird, dachte er.
»Reißt Euch zusammen und kommt endlich zu Euch!« verlangte die Stimme, aber er fühlte sich unendlich müde, vollkommen zerschlagen.
Deshalb schloß er die Augen wieder und versuchte, in den Schlaf zurückzufallen, aus dem man ihn gerissen hatte. Die Träume mochten wild gewesen sein, aber bestimmt hatten sie ihn weniger angestrengt als das Erwachen. Da traf ihn etwas hart ins Gesicht. Ohrfeigen. Links, rechts, links, rechts.
»Werdet endlich wach, Jeremias, sonst schütte ich einen Eimer Wasser über Euch aus!«
Jeremias!
Das war sein Name, und mit dieser Erkenntnis kam die Erinnerung. An seinen Besuch bei Nicolaas van der Zyl. An das üppige Essen und den guten Wein, den Burgunder. Und an das letzte Glas, das er getrunken hatte. Oder sollte er besser sagen, das falsche Glas?
»Ihr habt mir etwas in den Wein getan«, sagte er zu dem Mann, der vor ihm stand, seinem Gastgeber, dem Mann mit dem Raubvogelgesicht. Seine Stimme hörte sich an wie das Krächzen eines Raben. Seine Zunge war belegt und schwer; sie schien ihm nur unter Protest zu gehorchen. »Warum?«
»Um Euch ungestört hierherzuschaffen«, antwortete der Amtsrichter. »Ich hoffe, es ist nicht zu unbequem.«
Nun, bequem hatte Katoen es allerdings nicht. Er saß auf einem klobigen Stuhl, und seine Arme waren hinter seinem Rücken an die Lehne gefesselt. Der Raum war kalt und feucht, und es roch muffig wie im Gefängnistrakt des Rooden-Poorts-Turms. Ein Gefängnis hätte das hier auch gut sein können, nur sah er weder Zellen noch Gitter. Der Raum, dessen Decke sich in einer sanften Rundung bog, war außergewöhnlich groß. Ein Gewölbe geradezu, das von ein paar an den mächtigen Stützpfeilern aufgehängten Öllampen erhellt wurde und sich außerhalb ihres Lichtkreises in undurchdringlicher Finsternis verlor. Die Stützpfeiler und die Wände, soweit er sie erkennen konnte, waren feucht.
»Wo sind wir?«
Van der Zyl drehte sich einmal um sich selbst und breitete die Arme aus. »Das alles hier ist mein Reich. Ihr glaubt mir nicht? Doch, doch, es gehört zu meinem Haus und liegt direkt darunter. Ungewöhnlich, ich gebe es ja zu. Aber im Gegensatz zu den meisten Häusern Amsterdams ist dieses nicht auf Stützpfählen errichtet worden, sondern auf festem Grund. Eine Laune der Natur hat hier ein kleines Stück Land aufgeschüttet, und mein Schwiegervater hat das für seine Zwecke zu nutzen gewußt. Der alte Wouter Jaelens war durchaus nicht der Ehrenmann, als der er sich so erfolgreich ausgegeben hat. Seinen Reichtum verdankte er nicht nur legalen Geschäften. Einiges hat er dadurch verdient, daß er Waren unversteuert ein-und ausgeführt hat, und die hat er hier unten gelagert. Niemand vermutet solch ein großes Gewölbe so nahe am IJ. Nach seinem Tod habe ich sein Geschäft aufgelöst, um nicht in seine Machenschaften hineingezogen zu werden. Das wäre meinem Ruf als Amtsrichter schlecht bekommen.«
»Und Ihr nutzt das Gewölbe als Kerker«, stellte Katoen fest. »Damit seid Ihr auch nicht besser als Euer Schwiegervater.«
Van der Zyl schaute bekümmert drein. »Urteilt bitte nicht vorschnell, mein Lieber. Nur weil Ihr gebunden seid, solltet Ihr Euch nicht als Gefangenen betrachten. Ihr seid weiterhin mein Gast!«
»Wenn das so ist, würde ich gern gehen.«
»Oh, warum die Eile? Ich habe einiges mit Euch zu besprechen.«
»Das hätten wir auch in Eurer Wohnung erledigen können. Da fand ich es um einiges gemütlicher.«
»Tja, der gemütliche Teil ist wohl vorbei. Jetzt geht es ums Prinzipielle, und ich hoffe, ich kann Euch von meinen Ansichten überzeugen, Jeremias.«
»Nicht, solange Ihr in solchen Rätseln sprecht, van der Zyl.« Er nannte den Amtsrichter absichtlich beim Familiennamen, weil die Vertrautheit, die im Gebrauch des Vornamens lag, ihm angesichts der Umstände mehr
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