Die Tulpe des Bösen
aufs IJ mit seinem unüberschaubaren Wald aus Masten und fragte sich, wann endlich eines der vielen Schiffe Anna zurückbringen würde.
Keine Woche nachdem sie ihm von ihrem Plan, nach Konstantinopel zu reisen, erzählt hatte, war sie auch schon an Bord eines osmanischen Handelsschiffes gegangen, dessen Kapitän eine billige Passage anbot und zudem Konstantinopel direkt ansteuern wollte. Nur ungern hatte er sie allein ziehen lassen, und mit jedem Monat, der ins Land ging, wuchs seine Sorge. Nicht ein einziger Brief von ihr war eingetroffen und auch sonst keine Nachricht. Die Sehnsucht nach ihr fraß ihn fast auf, aber zugleich fürchtete er sich vor dem Wiedersehen, fragte er sich, wie sie aufnehmen würde, was er ihr zu sagen hatte.
Ein kalter, ständig die Richtung wechselnder Wind blies über das IJ, und fröstelnd zog Katoen den wollenen Umhang vor seiner Brust zusammen. Vermutlich wäre es bei diesem Wetter vernünftig gewesen, heimzugehen und die Witwe Gerritsen um einen Becher warmes Bier oder eine Tasse warme Milch zu bitten, aber aus Vernunftgründen war er nicht hier. Natürlich grenzte das an Aberglauben, aber vielleicht brachte es Anna schneller zurück, wenn er hier auf sie wartete.
Und wenn sie gar nicht zurückkam? Wenn ihr etwas zugestoßen war? Diese Frage hatte sich im Laufe des Winters immer häufiger in seine Gedanken geschlichen, hatte immer wieder mit Macht an die Tür seines Verstandes gepocht. Aber er weigerte sich sie einzulassen. Es durfte nicht sein!
»Kann ich Euch helfen, Mijnheer? Ihr seht halb erfroren aus.«
Eine Frau sprach ihn von hinten an. Er war so versunken gewesen, daß er nicht gehört hatte, wie sie an ihn herangetreten war. Wohl eine der Dirnen, die hier am Hafen ihr unsittliches Geld verdienten. Sie mochte an seiner Kleidung erkannt haben, daß er weder ein einfacher Seemann noch ein Hafenarbeiter war. Jetzt glaubte sie wohl, einen guten Fang gemacht zu haben und ordentlich was verdienen zu können, wenn sie einem braven Bürger mit ihrem warmen Leib die Kälte aus den Knochen trieb. Ihn ärgerte, daß sie mit ihrem schändlichen Treiben nicht einmal die Abenddämmerung abwartete, und er fuhr herum, um sie zurechtzuweisen.
»Anna!«
Wahrscheinlich starrte er sie an wie einen Geist. Zum Greifen nah stand sie vor ihm, in einen dicken Kapuzenmantel gehüllt, und lächelte ihn an. Einfach so. Er wollte sie umarmen, küssen, aber er wagte nicht, sie zu berühren, weil er fürchtete, sie könnte verschwinden wie ein Traumbild, das um so schneller verblaßt, je angestrengter man es nach dem Erwachen festzuhalten sucht.
»Immerhin, du erkennst mich wieder«, sagte sie mit leisem Spott in der Stimme. »Aber einen Kuß scheinst du nicht für mich übrig zu haben. Hat dir inzwischen ein hübsches Amsterdamer Mädchen den Kopf verdreht, Jeremias?«
»Für mich gibt es kein anderes Mädchen, nicht in Amsterdam und auch sonst nirgends.« Er faßte sie an den Armen und zog sie zu sich heran. »Das ist gut!«
»Was?« fragte Anna.
»Du löst dich nicht in Luft auf.« Sein Gesicht näherte sich dem ihren, und ihrer beider Lippen verschmolzen zu einem nicht enden wollenden Kuß. »Ich lasse dich nie wieder fort, Anna, nie wieder!«
Als er sie so in den Armen hielt, spürte er keine Kälte mehr und keinen Wind. Es fühlte sich gut und richtig an, als hätte es nie etwas anderes gegeben, ganz so wie bei ihrem ersten Kuß damals im Garten des Tulpenzüchters van Dorp. Die vielen Monate, die dazwischenlagen, waren wie weggewischt.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, musterte Anna ihn und fragte: »Geht es dir nicht gut, Jeremias? Du siehst so … so traurig aus.«
»Ich habe dir etwas mitzuteilen, Anna, es geht um deinen Ziehvater.«
»Ist er gestorben?«
Katoen war erstaunt. »Wie …?«
»Ich habe damit gerechnet. Bei unserem Abschied damals hat er mir gesagt, daß wir uns nicht wiedersehen würden. Den Sommer wollte er noch erleben, aber nicht mehr den Herbst. Und er hat mich ermutigt, nach Konstantinopel zu reisen und meine Pflicht zu erfüllen. Wann ist er von uns gegangen?«
»Am letzten Tag im August, es war ein sonniger, warmer Donnerstag. Noortje hat ihn gefunden, als sie kam, um nach ihm zu sehen und ihm ein Mittagessen zu bereiten. Er saß in seinem Sessel, ein Buch auf den Knien, und sah aus, als ob er schliefe. Wir haben die Totenmesse in der Noorderkerk abgehalten und ihn im Schatten der Kirche begraben.«
Anna streichelte seine Wange. »Ich danke dir
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