Die Tunnel der Seele
starrte auf die handgedrehten Muster an der Gipsdecke.
Okay, Mase, das ist es also, was du unbedingt wolltest und wofür du durch diese ganze Scheiße gegangen bist. Du hast alles dafür getan. Du hättest dich sogar nackt vor den Kunstrat gestellt und deine Kronjuwelen geschwenkt. Du hast die Kritiker bequatscht, deine Quacksalberprodukte verkauft, und jetzt hast du vielleicht den größten Schritt in deiner ganzen Karriere gemacht. Vielleicht sogar in deinem ganzen Leben. Denn wenn du hier nicht etwas produzierst, das sich verkaufen lässt, kannst du dich zu Weihnachten in Sawyer Creek wieder von Lebensmittelmarken ernähren.
Und du musst deiner Mutter in die Augen sehen, selbst wenn sie deinen Blick nicht erwidern kann, und ihr sagen, dass du versagt hast, dass deine Träume nicht stark genug waren, dass du nicht genug an sie geglaubt hast.
Diabetische Retinopathie. Eine schnelle Verschlechterung ihrer Sehkraft. Und sie hatte nie ein Wort darüber verloren, selbst dann nicht, als der Ausgang des Tunnels immer kleiner wurde. Sie hatte die Ärzte so lange belogen, bis ihre Krankheit zu weit fortgeschritten war, als dass es ein Zurück gegeben hätte, und Mason hatte es erst herausgefunden, als es zu spät war. Sie war zu jung für Medicare und nicht arm genug für Medicaid, hätte sich trotzdem einfach behandeln lassen, Schulden machen und später Privatinsolvenz anmelden können. Damit wären jedoch die mageren Ersparnisse pfutsch gewesen, die sie für seine Ausbildung zur Seite gelegt hatte. Mason hatte das Geld in Adderly verschwendet, auf Holz- und Metallbrocken eingeschlagen und versucht, sie in Träume zu verwandeln.
Das Schlimmste war, dass Mason nicht wusste, ob er sie für ihre Aufopferung bewundern oder für ihre Großzügigkeit verachten sollte. Jetzt kam sie mit ihrer Behindertenrente und den kleinen Beträgen, die Mason ihr von seinem schmalen Gehalt als Fabrikarbeiter abgeben konnte, geradeso über die Runden. Aber dieser Job war jetzt weg, verloren, weil er sich seiner Kunst widmen wollte. Und immer noch war seine Mutter sein größter Fan.
»Du musst immer an deinen Träumen festhalten, mein Schatz«, sagte sie durch Zähne, die sie nicht reparieren lassen konnte, weil sie nicht genug Geld hatte. »Alles, was wir auf dieser Welt haben, sind unsere Träume.«
Mason rollte sich vom Bett und lief durch das Zimmer. Genauso ging er umher, wenn er eine Idee hatte, die ihn in Aufregung versetzte, wenn er dieses Jucken in den Fingern spürte, wenn eine neue Skulptur in seinem Kopf Gestalt annahm. Es war dieselbe Kombination aus Begeisterung und Furcht. Begeisterung, weil die neue Idee die beste aller Zeiten war, und Furcht, weil er wusste, dass das Ergebnis niemals seinem Traumbild entsprechen würde.
Doch dieses Mal war die Furcht kein Nebenprodukt eines Hochgefühls.
Diese Klausur war die größte aller seiner Traumvorstellungen. Er hatte bereits beschlossen, dass er sein Werkzeug von der alten Holzbrücke werfen würde, die Korban Manor vom Rest der Welt abschnitt, wenn sich aus seinem Aufenthalt im Künstlerrefugium keine Richtung ergab oder er keine Anerkennung erhielt. Natürlich würde er mit der Höhe zu kämpfen haben, doch wenn es notwendig war, könnte er mit verbundenen Augen auf die Brücke kriechen. Er würde dem metallischen Klirren und Scheppern auf den Felsen weit unter ihm lauschen und die Blasen und Schwielen heilen lassen, während er sich einen richtigen Job suchte.
Kreativität hatte ihren Preis. Und diesen Preis musste man zahlen, selbst wenn die Gefahr des Scheiterns bestand. Ärzte und Anwälte verbrachten zehn Jahre an der Universität und zahlten dafür Zehntausende von Dollar. Kriminelle bezahlten mit dem Risiko, ihre Freiheit zu verlieren. Priester gaben die Freuden des Fleisches auf. Die Kosten für Soldaten waren schier unermesslich. Künstler bezahlten mit anderen Dingen, und Schmerz war wohl die Sache, die sie am wenigsten kostete.
Es war ja nicht so, dass er nicht bereit war, für seine Kunst Opfer zu bringen. Er war bloß der Meinung, dass seine Mutter nicht darunter leiden sollte. Er schaute nach unten und sah, dass sich seine Fäuste zu wütenden Hämmern verkrampft hatten. Die Wut machte ihn beinahe betrunken.
Er hörte auf, herumzulaufen, und lehnte sich gegen das Fenster. Durch das altmodische geriffelte Glas schaute er auf das Anwesen. Obwohl er sich gerade einmal im zweiten Stockwerk befand, musste er sich am Fenstersims festhalten, um das Schwindelgefühl
Weitere Kostenlose Bücher