Die Tunnel der Seele
Obsthain da draußen gerannt und hatte ein langes weißes Nachthemd an, das aufgebauscht hinter mir her wehte. Du weißt schon, wie in den bescheuerten viktorianischen Bildern auf dem Buchcover eines Schauerromans. Ich bin in Zeitlupe gelaufen, als ob der Wind sich mir entgegenstellte oder so etwas in der Art.«
»Der alte Traum vom ›Wegrennen ohne vorwärts zu kommen‹«, erwiderte Anna. »Ich hatte ihn immer während meiner Abschlussprüfung oder manchmal, wenn ich eine Forschungsarbeit eingereicht habe.«
Oder das letzte Mal, als ich von Stephen geträumt habe. Wann war das? Vor fast einem Jahr?
»Ich bin nicht weggelaufen.« Cris’ Stimme wurde ein wenig leiser, als sie sich die Details des Traums in Erinnerung rief. »Ich bin auf etwas zugelaufen. Es wartete auf mich in den Schatten, direkt am Rande der Bäume. Es war so echt. Ich konnte den Tau an meinen nackten Füßen spüren, die kalte Luft in meinem Gesicht, die Wärme—«
Anna richtete sich von ihrem Kissen auf und blickte zu Chris mit ihren zerzausten Haaren, verschlafenen Augen und geröteten Wangen.
»—die Wärme
hier
unten.« Cris hörte auf zu sprechen, als wäre sie vor der Kraft ihrer Erinnerung erschrocken. »Und ich bin einfach weitergelaufen. Ich konnte das Haus hinter mir spüren, fast so als ob es mich beobachten würde, als ob es wollte, dass ich … dann hatte ich das Ende der Wiese erreicht. Dieses Schattending kam unter den Bäumen hervor. Es berührte mich, aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Dort, wo es meine Schulter angefasst hatte, breitete sich die Wärme irgendwie aus, erfüllte mich …«
Cris’ weit aufgerissene Augen starten in die Erinnerung an ihren Traum hinein. »Es war ganz schön intensiv«, flüsterte sie.
Anna war es nicht gewöhnt, dass Leute intime Details mit ihr teilten. Als Waisenkind hatte sie gelernt, eine sichere emotionale Distanz zu wahren. Selbst vor den wenigen Männern, mit denen sie eine Beziehung eingegangen war, hatte sie Geheimnisse gehabt und so einen tiefen Teil ihrer selbst verborgen gehalten. Und jetzt erzählte ihr diese Frau, die sie gerade erst gestern kennengelernt hatte, brühwarm von ihrem erotischen Traum. Aber vielleicht war es auch etwas anderes. »Du hast dir wohl jemanden geangelt. Ich wette, es war Mason.«
Cris grinste. »Nein, ich würde mich mit Sicherheit daran erinnern, wenn mit ihm etwas gelaufen wäre. Ich war nicht
so
betrunken.«
Anna zwang sich, Interesse an Cris’ Traum zu zeigen, um Buße für ihre Gedanken an Mason zu tun. »Was, glaubst du, bedeutet der Traum?«
»Dass ich verrückt bin?«
Als ob Träume eine Bedeutung hätten. Träume waren nichts weiter als ein Fehler von Synapsen, ein Abfeuern überschüssiger Energie, so wie ein kaputter Verteilerdraht in einem Auto Funken von sich gibt. Träume waren zufällige Gehirnströme, ganz gleich, was die Professoren des Duke-Programms für Verhaltenswissenschaften ihr beigebracht hatten.
Genau genommen waren Träume Unsinn, sowohl Nacht- als auch Tagträume. Besonders wenn sie dich dazu bringen, ein großes Herrenhaus hoch oben in den Appalachen zu besuchen, um dich auf die Suche nach deinem eigenen Geist zu begeben.
Ganz besonders dann.
»Vielleicht ist es nur dein Unterbewusstsein, das deinen neu entdeckten Sinn für Freiheit widerspiegelt«, meinte Anna und kramte einen Solipsismus aus einem ihrer damaligen Psychologiekurse heraus. »Schließlich hast du hier einen Haufen Zeit, keine Termine, keinen Ehemann, der zufrieden gestellt werden muss. Hier bist du ganz allein und kannst tun und lassen, was du willst. Vielleicht ist es nur ganz natürlich, dass sich diese Befreiung in romantischen Bildern zum Ausdruck bringt.«
»Wow. Das ist gut. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und das meinem Psychiater zu erzählen.«
Anna war kurz davor, noch etwas über viktorianische Andeutungen und sexuelle Frustration zu sagen. Doch das war selbst für Anna zu zynisch und stumpfsinnig.
»Aber vielleicht war es auch einfach nur ein stinknormaler Traum«, sagte sie und dachte bereits mit Unbehagen an den bevorstehenden blutigen Durchfall, der sie an jedem Morgen aufs Neue begrüßte.
»Wahrscheinlich«, sagte Cris.
Anna schob ihre Decken zurück und setzte sich auf. Sie zitterte in ihrem Baumwollnachthemd. »Wollen wir knobeln, wer zuerst ins Bad darf?«
»Geh ruhig. Ich will noch einen Moment liegen bleiben und mich etwas sammeln. Dann werde ich mich mal runterschleichen und sehen, ob ich
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