Die Tunnel der Seele
mit den Jahren grau geworden. Er drehte sie herum.
Auf der Leinwand sah er eine perfekte Abbildung von Korban Manor in einer stürmischen Nacht. Sie war mit denselben dicken Ölfarben gemalt wie die anderen Gemälde, die an den Wänden des Hauses hingen. Das Haus war bis ins kleinste Detail maßstabgetreu gezeichnet worden und schien so sehr eins mit der Landschaft zu sein, dass es aussah, als wäre es wie eine lebende Kreatur aus der Erde gewachsen. Auch das Astloch, das Mason am Morgen in der Hausverkleidung unter einem Fenster im zweiten Stock bemerkt hatte, war auf dem Gemälde zu sehen.
Doch es war nicht nur die naturgetreue Kopie, die das Bild so beeindruckend machte. Das Herrenhaus schien zu atmen, als ob es unter der Kraft des eingebildeten Sturmes bebte. Die Bäume bogen sich im Wind und um das flache Dach türmten sich schwarze Wolken. Vorsichtig berührte Mason die Leinwand und ein kühles, elektrisierendes Kribbeln stieg seinen Arm hinauf. Er fragte sich, warum ein so wunderbares Werk wie dieses der zerstörerischen Luft des Kellers ausgesetzt wurde.
Er lehnte das Gemälde gegen den Tisch und führte die Lampe näher heran, wobei er darauf achtete, dass die Hitze die Oberfläche nicht versengte. Aufmerksam betrachtete er jeden Zentimeter des Kunstwerks und fuhr dabei mit den Fingern die Furchen entlang, die die Pinselstriche hinterlassen hatten. Die Winkel der Giebel waren geometrisch exakt, die Schattierungen ebenmäßig, das Farbspektrum so genau, wie es nur das menschliche Auge wahrnehmen kann. Selbst die Rinde der Bäume war von einer höchst anspruchsvollen Beschaffenheit.
Gerade betrachtete er den oberen Teil des Hauses und die weiße Brüstung des Witwenstegs, als er den einzigen Makel des Gemäldes entdeckte. Die Farben waren versehentlich miteinander vermischt worden. Ein gräulicher Fleck verunstaltete einen kleinen Bereich des Witwenstegs. Der Künstler hätte diesen Fehler mühelos beheben können, hatte es aus irgendeinem Grund aber nicht getan. Trotzdem war das Bild mit zu viel Kunstfertigkeit gezeichnet worden, als dass es hier unten in der Dunkelheit versteckt werden dürfte.
Mason wusste nicht, wie lange er schon auf das Gemälde gestarrt hatte. Es hatte eine derart hypnotisierende Wirkung, dass es ihn in eine Art Strudel zu ziehen schien. Endlich schüttelte er den Kopf und realisierte, dass er den ersten Tag seiner letzten Chance sinnlos vergeuden würde, wenn er nicht bald in die Gänge kam. Er räumte das Gemälde aus dem Weg, lehnte es gegen einen Stützpfeiler und versprach sich hoch und heilig, dass er Miss Mamie später danach fragen würde.
Er hatte den Beginn seiner eigenen Arbeit, das Abschlagen der Rinde von dem Ahornholz, hinausgezögert. Es ärgerte ihn, dass seine Gedanken immer wieder zu dem Gemälde zurückwanderten.
»Komm schon, du Idiot«, tadelte er sich selbst. »Das ist es. Denke an Mutter in Sawyer Creek, wie sie dahinvegetiert, weil sie sich für dich geopfert hat. Allein im Dunkeln.«
In seinem Kopf hörte er ihre Stimme, wie sie sagte, dass er an seinen Träumen festhalten solle. Er ordnete sein Werkzeug, legte das Kanneliermesser, den Hohlbeitel, die kleine Axt, die Queraxt, den Holzhammer und die sechs Meißel mit ihren verschiedenen Kanten und Winkeln bereit. Noch immer hatte er keine Idee. Er betrachtete die Schatten, die im Kerzenlicht gespenstig hin und her sprangen.
Irgendjemand war da in der ihn umgebenden Dunkelheit, beobachtete ihn.
Aus der Ecke vernahm er ein leises Rascheln. Mason hielt die Lampe nach oben. Ein kleines, dunkles Etwas hob sich vor dem etwas helleren Hintergrund ab und jagte hinüber zum Weinregal.
Eine Maus. Mason krallte die Zehen in seinen Schuhen ein. Schon immer hatte er eine tiefe Abneigung gegenüber Nagetieren empfunden. Als er jung war, kurz bevor sein Vater starb, hatte seine Familie in einem gemieteten Wohnwagen gelebt. Der Wohnwagenpark befand sich direkt neben einer Müllhalde. Dank des riesigen Angebots an köstlichem Abfall lebten die Ratten dort in Saus und Braus und vermehrten sich wie die Kaninchen.
Eines Nachts hörte er kratzende Geräusche aus dem Inneren der Couch, auf der er schlief. Er schaltete das Licht an und sah voller Entsetzen, wie winzige neu geborene Ratten aus einem Riss im Überzug der Couch hervorquollen. Die alte graue Katze der Familie sprang sofort hinzu und Mason musste voller Ekel dabei zusehen, wie sie die Ratten eine nach der anderen wie sie blind das Licht der Welt erblickten im
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