Die Tunnel der Seele
irgendetwas anderes als das Haus zu fotografieren. Er erinnerte sich an das mulmige Gefühl, das ihn auf dem Weg die Straße hinunter zur Brücke überkommen war und das sich erst wieder gelegt hatte, als das Haus wieder in Sichtweite kam.
»Es ist, als ob es eine Art von … Energie hätte«, fuhr Cris fort. »Während ich zeichnete, schien sich die Kohle wie von selbst zu bewegen.«
»Sie glauben doch nicht etwa an hypnotische Suggestion und diesen ganzen Quatsch?«, schnaubte er und bereute es gleich darauf. Mit Spott konnte man nicht zum Herzen einer Frau vordringen und auch nicht zu den anderen warmen Körperteilen.
Cris kräuselte die Lippen. Sie schlug den Skizzenblock zu. Noch immer ging Roth das gespenstige, verzerrte Bild nicht aus dem Kopf.
»Jeder ist ein Kritiker«, sagte sie. »Warum machen Sie sich nicht wieder an die Arbeit und drücken auf Ihre blöden kleinen Knöpfchen?«
Sie stürmte an ihm vorbei und wirbelte mit den Füßen die Laubblätter nach oben. Roth sah zu, wie sie auf die Fuhrwerkstraße und in Richtung des Hauses lief. Er schob den Gurt zurecht, der an seinem Hals rieb, und überprüfte dann die Kamera, die auf dem Stativ aufgebracht war.
Bei
der
habe ich es vermasselt, dachte er.
Aber was interessiert mich schon eine primitive Strichzeichnung? Künstler sind ein Haufen Idioten, die über »den Sinn des Schaffens« und »den kreativen Geist der Schöpfung« und derartigen Firlefanz labern. Dabei kommt es einzig und allein auf Geld, Macht und Sex an – und wie man sich so viel wie möglich davon beschafft
.
Er richtete sein Objektiv auf das Herrenhaus. Cris sprang gerade die breiten Stufen hinauf, die auf die Veranda führten. Nachdem sie durch die Eingangstür verschwunden war, konnte Roth das Gefühl nicht loswerden, dass das Haus sie mit Haut und Haaren verschlungen hatte.
20. KAPITEL
I m Lichte des Tages sah der Wald anders aus. Seine Grenzen wirkten offener, die Äste nicht mehr so bedrohlich, die Schatten unter dem Blätterdach weniger hart und erstickend. Anna atmete tief die frische Luft des Nachmittags ein, fühlte sich quicklebendig, voller neuer Energie. Korban Manor und die Berge hatten ihren Appetit zurückgebracht und ließen sie die lange Dunkelheit vergessen, in die der Krebs sie gestoßen hatte.
An der Gabelung nahm sie die rechte Biegung und musste an das Gedicht von Robert Frost über den nicht gegangenen Weg denken, weil der rechte nicht viel mehr als ein von Tieren ausgetrampelter Pfad war. Doch genau dieser Pfad führte zu einer Öffnung an einem Hügel, einem sanft abgerundeten Schädel aus Erde, der eine Mütze aus Gras trug. Im Zentrum der Öffnung war ein rechteckiges Stück Erde durch einen Eisengitterzaun abgegrenzt, im Inneren ragten weiße und graue Grabsteine aus dem Dreck.
»Hier also bewahrt ihr eure Toten auf«, meinte sie mit in den Himmel gerichteten Blick.
Anna lief auf den Zaun zu. Sie sah sich um, doch im Wald war es mucksmäuschenstill. Es wäre nicht der erste Friedhof, den sie unbefugt betreten würde. Sie hievte sich über den Zaun, wobei sie sich an seinen gewundenen Blumenranken und Schneckenverzierungen abstützte, um nicht von den spitzen Enden der Stäbe aufgespießt zu werden.
Zwei große Grabmäler aus Marmor dominierten den Friedhof. Sie waren wunderschön, wenn auch der Zahn der Zeit an ihnen genagt hatte. Auf dem ersten stand
Ephram Elijah Korban, 1859-1918. Viel zu früh von uns gegangen
.
Auf dem zweiten, weniger verzierten, stand einfach nur
Margaret
. Anna kniete nieder und legte die Hand fest auf die Erde über Ephrams letzte Ruhestätte.
»Ist jemand zu Hause, Miss Galloway?«
Anna schaute auf. Miss Mamie stand am Zaun. Irgendwie hatte sie fünfzig Meter offenes Feld überquert, ohne dass Anna es bemerkt hatte.
»Ich bin nur ein Stück spazieren gegangen. Da hat mich die Neugier gepackt.«
»Sie wissen doch, was die Neugier mit der Katze angestellt hat. Die meisten unserer Gäste respektieren Zäune.«
»Meinen Sie die Gäste, die laufen, oder die, die schweben?«
Das Echo von Miss Mamies Kichern hallte von den Grabmälern wider. »Ah, Sie reden von den Geistergeschichten. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste Ihre Bewerbung annehmen, wissen Sie. Forscherin im Bereich paranormale Aktivitäten. Das ist einfach perfekt.«
»Es ist ebenso viel eine Kunstform wie das Malen und die Schriftstellerei. Es dreht sich alles um die Suche, nicht wahr?«
»Sehr schlau ausgedrückt. Und wonach genau suchen Sie,
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