Die Tunnel der Seele
unsterblich.
Dummes Vögelchen
. Und trotzdem … Seiner Erfahrung nach galt: Je leerer das Oberstübchen, desto enger das Kellergewölbe.
Seine Arbeit frustrierte ihn in diesem Moment sowieso. Vielleicht war jetzt ein guter Zeitpunkt gekommen, um sich eine Begleitung für den Abend zu organisieren. »Ja, meine Liebe«, sagte er, hob die Kamera hoch und richtete sie auf die Frau.
Sie schaute weg.
»Nur nicht so schüchtern, meine Hübsche. Machen Sie meine Kamera glücklich. Ich verlange ja nicht einmal, dass Sie ›Cheese‹ oder so etwas in der Art sagen.« Er zoomte ihr Dekolleté heran, ohne dass sie etwas davon bemerkte.
Sie schaute auf und lächelte, er betätigte den Auslöser und legte die Kamera dann beiseite. »Habe ich Sie letzte Nacht nicht auf der kleinen After-Dinner-Party von Miss Mamie gesehen?«
»Ja. Ich habe Sie auch gesehen. Sie sind William Roth, nicht wahr?«
Roth gefiel es, wenn Frauen vortäuschten, von seinem Ruhm nicht beeindruckt zu sein, doch sie konnte das kleine Funkeln in ihren Augen nicht verbergen. Er war vielleicht kein berühmter Filmstar, aber seine Bekanntheit erwies sich trotzdem als nützlich, wenn er sich ein Vögelchen an Land ziehen wollte. »Der bin ich, leibhaftig und in voller Größe«, sagte Roth. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Cris Whitfield. Cris ohne
h
.« Sie streckte ihm die Hand zur Begrüßung aus, bemerkte dann aber, dass sie von der Kohle beschmutzt war und legte sie in ihren Schoß zurück.
»Es ist mir eine Ehre.« Er verrenkte den Hals, als ob er ihre Zeichnung betrachten wollte, spähte jedoch nur auf ihre entblößten Schultern. »Was zeichnen Sie da?«
»Das Haus«, sagte sie und nickte dabei in dessen Richtung.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick darauf werfe?«
Sie zuckte mit den Schultern und drehte den Skizzenblock herum, sodass er die Zeichnung betrachten konnte. Er nutzte die Chance, von oben auf sie herunter zu blicken.
»Ich bin nicht besonders gut«, sagte Cris.
So weit ich das aus dieser Perspektive beurteilen kann, siehst du ziemlich gut aus
.
»Das Haus ist kein einfaches Motiv«, sagte er und langte nach dem Block. »Ich kann kaum eine anständige Bildeinstellung dafür finden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, dieses Ding zu—«
Er hatte eine Strichzeichnung erwartet, etwas, das der große böse Wolf mit einem halben Atemzug davonblasen könnte. Aber nicht das hier … dieses kranke Irrenhaus, das die Frau skizziert hatte. Das hier stammte nicht von einem kleinen Mädchen mit Pferdeschwanz, das aussah wie ein Strandhäschen aus Malibu mit einem Faible für Reiki-Kurse oder irgendwelche andere New-Age-Kindergartenscheiße.
Diese Zeichnung stellte definitiv das Herrenhaus dar, aber sie war sehr viel
mehr
als das.
Sie war schwermütig und dunkel und pessimistisch, eine Mischung aus Dali und diesem spanischen Künstler Goya. Nach dessen Tod hatte man einige Gemälde von ihm gefunden, die seither in seinem Haus versteckt wurden, weil niemand es ertragen konnte, sie anzusehen. Roth kämpfte gegen das plötzlich in ihm aufflammende Verlangen an, das Bild zu berühren.
Die Kohle lag wie ein dicker Pelz auf dem Papier. Die Schatten des Säulenvorbaus waren scharfkantig und schroff und Roth konnte sich beinahe vorstellen, wie geflügelte Kreaturen dort in der Dunkelheit umherflatterten. Die Fenster in den Giebeln wirkten wie anzüglich grinsende Augen, die große Eingangstür wie ein gefräßiger Schlund. Er schaute von der Zeichnung auf und blickte hinüber zum Haus, und nur für eine Sekunde, einen so kurzen Augenblick, dass er selbst überzeugt war, es handle sich nur um einen Streich seiner Fantasie, sah das Haus aus wie auf der Zeichnung, schwankend und pochend wie eine lebendige, knurrende Bestie.
»Grundgütiger, mein Mädchen!«, brachte er endlich hervor. »Wo kommt das denn her?«
Schüchtern schaute sie hinunter auf die Spitzen ihrer Wanderschuhe. Als sie mit den Schultern zuckte, nahm er das Schaukeln ihrer Brüste nur zur Hälfte wahr. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es ist einfach irgendwie passiert.«
Roth schüttelte den Kopf.
»Ich habe noch nie etwas so Gutes hinbekommen«, sagte sie. »Ich meine, ich bin bei Weitem nicht so gut.«
»Für mich sieht es aus wie das Werk eines Genies.«
»Nicht dieses Bild. Ich weiß, es
ist
gut. Aber das ist nicht mein Verdienst. Es liegt an dem Haus.«
»Dem Haus?«, Roth dachte daran, dass er nicht imstande gewesen war,
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