Die Tunnel der Seele
versteckt waren. Ihre Seelen würden den Berg niemals verlassen können.
»Bald«, sagte Miss Mamie und das Wort klang wie ein Schmerz, wie ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen.
Jahrzehnte des Wartens, dunkler Taten und des Todes, der Verschwörungen, des Stehlens, der Versklavung näherten sich dem Ende. Für Ephram hatte Zeit keine Bedeutung, doch Miss Mamie war noch immer der Ungeduld der Sterblichen erlegen. Besessenheit wirkte in beide Richtungen, sie nahm die Toten wie die Lebenden gleichermaßen in Besitz.
Ephram presste seine hölzernen Lippen zusammen, verzog sie dann aber zu einem Lächeln. »Es schwächt mich, die Wände zu verlassen.«
»Du wirst wieder ganz der Alte sein. Nur noch zwei Nächte.«
»Und Anna?«
»Sie ist schwach. Sie stirbt.«
»Ah. Süße Träume.«
Das Gesicht der Büste verzog sich zu einer Grimasse, die Augen geschlossen, die Stirn vor Konzentration in Falten gelegt. »Sorg dafür, dass er mich vollendet«, stieß Ephram mühsam hervor.
»Mr. Jackson steckt voller Leidenschaft«, erwiderte Miss Mamie. »Er liebt dich. Er betet dich an. Er will dir gefallen.”
»Das Einzige, was er anbetet, ist das Fleisch seiner Arbeit. Aber das spielt keine Rolle. Sein Geist gehört mir.«
»Wir alle gehören dir. Sie träumen von dir.«
»So soll es sein.«
»Und nachdem du Sylva ins Herrenhaus gelockt hast—«
»Ich habe dir verboten, ihren Namen zu erwähnen.« Die Augen der Büste schossen auf, orangefarbene und rote Streifen funkelten darin. Sie zuckte zusammen und wartete darauf, dass Ephram sie bestrafen, ihr die Jahre wieder auferlegen, ihr das Geschenk der Jugend wieder nehmen würde. Sie kniete nieder, den Kopf gesenkt, das Gesicht tränenüberströmt.
»Weißt du, warum ich dich nie durch den Tunnel deiner Seele geführt habe?«, fragte Ephram mit kalter, schon lange toter, beinahe überdrüssiger Stimme.
Miss Mamie wischte sich die Augen und schniefte hoffnungsvoll. »Weil du mich liebst?«
Das war der einzige Traum, für den es sich lohnte zu leben. Der einzige Traum, der über den Tod hinaus Bestand haben würde. Liebe sprach sie von allem Bösen frei, Liebe machte all die Morde, die Manipulation von Seelen und die Folter toter Geschöpfe ehrenwert und edel. Liebe vergab, was Gott nicht vergeben konnte.
Ephrams Lachen war unerwartet und schroff und erfüllte die abgestandene Luft des Kellers. Sie schaute in seine grausamen, heißen Augen.
»Nein, nein, nein«, antwortete er. Er fühlte sich in dem Holz jetzt sichtlich wohler, sickerte in die Winkel und Rillen und gehobelten Furchen, bis es
sein
Gesicht wurde. »Ich verschone dich, weil ich dich brauche. Du bist die einzige Person, von der ich ganz sicher weiß, dass sie mich niemals verraten wird.«
Sylva hatte ihn verraten, auch wenn Miss Mamie ihn nicht daran erinnern würde. Seine Wut auf Sylva könnte wieder die Falsche treffen, wie es so oft der Fall war. Doch Miss Mamie könnte die eine Sache herausfinden, die an ihr nagte, wenn sie nur die richtigen Fragen stellte.
»Ich muss es wissen«, sagte sie atemlos in den immer stickiger werdenden Raum hinein. »Liebst du mich am meisten?«
Die Büste seufzte. Miss Mamie fragte sich, ob ein Toter in der Lage war, zu lügen. Nein, nicht Ephram. Er log niemals und er hielt seine Versprechen immer.
»Margaret, es gibt nur dich. Was glaubst du, warum ich hier zurückbleibe, meine Seele an dieses Haus mit dir darin kette?«
Wenn sie doch nur sicher sein könnte. Doch ein Haus der Liebe konnte nicht auf einem Fundament des Zweifels gebaut werden. »Warum hast du dann Sylva auch am Leben gelassen?«
Stille erfüllte den Keller. Die Schatten warteten ungeduldig an der Kante des von der Laterne ausgehenden Lichtstrahls. Sie hatte es nur gewagt, ihn herauszufordern, weil sie wusste, dass Ephram sie mit dem Näherrücken des blauen Mondes mehr als jemals zuvor brauchte. Und sie wollte, dass sie sich gegenseitig besaßen. Geist, Körper und Seele. Keine Geheimnisse.
»Ich habe sie alt gehalten«, antwortete Ephram. »Und ich habe sie niemals in mein Herz gelassen. Dort gibt es nur Platz für dich, im Inneren, auf der toten Seite. Und bald, wenn ich Beine habe, werden wir auf beiden Seiten laufen, zusammen.«
Miss Mamie zwinkerte, um die Tränen zurückzuhalten. Wie hatte sie an ihm zweifeln können?
Sie kam nicht dagegen an, lehnte sich hinüber, legte ihr Gesicht an das Holz, versengte ihre Haut an den glühenden Lippen ihres Liebhabers.
Dann war er verschwunden,
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