Die Tunnel der Seele
raubte. Aber es war nicht nur die steife Brise, die das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Raben hatten sich von den Bäumen herabgeschwungen und auf dem Brückengeländer niedergelassen. Dutzende wachsame Augenpaare starrten ihn erwartungsvoll an.
»Zum Teufel mit euch«, fluchte er.
»Der Teufel existiert nur in unseren Gedanken, Mr. Roth.«
Erschrocken drehte er sich um und sah Lilith auf der Mitte der Brücke stehen. Wie in Gottes Namen? Wo kam
sie
denn auf einmal her?
»Ich hoffe, Sie wollen uns nicht verlassen.«
»Ähm, nein! Ich wollte nur ein paar Bilder schießen.« Er hielt seine Kamera hoch. »Die Aussicht von hier ist einfach bezaubernd.«
Er betrachtete sie näher. Ihr schwarzes Kleid schmiegte sich fast schon pathetisch an ihren Körper. Sie war ein bisschen blass, erinnerte ihn an diese Mädchen aus den Industriestädten Nordenglands, über denen der Smog und die Regenwolken so dicht hingen, dass nicht ein einziger Sonnenstrahl hindurchdrang. Aber das störte ihn nicht. Schließlich war sie jung und ihre Rundungen waren mehr als verlockend. Wenn Dienstmädchen für Korban gut genug waren, warum dann nicht auch für ihn, Sir William Roth höchstpersönlich, den geilen Hengst, der weiß, was Frauen wirklich wollen?
»So viele herrliche Motive«, sagte er und lächelte. Junge Dirnen fuhren auf sein Lächeln ab. Oder taten zumindest so, was ja am Ende auf dasselbe hinauslief.
»Ja, das stimmt. Früher habe ich Bilder von dieser Landschaft gemalt. Bevor ich für Ephram Korban gearbeitet habe.«
»Für Korban? Er ist doch schon lange tot, und Sie sind doch noch ein blutjunges Ding.«
Sie lächelte auf ihre ganz eigene, faszinierende Art. Wie ein kleiner, schüchterner Vogel.
»Sagen Sie mal«, meinte er und strich langsam über sein Objektiv. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein Bild von dem schönsten Motiv mache, dass mir hier seit meiner Ankunft vor die Linse getreten ist?«
»Nur zu, Mr. Roth. Tun Sie sich keinen Zwang an.«
Er hob die Kamera und nahm sie ins Visier, stellte auf ihre Brüste scharf, fokussierte ihren Nippel. Scheinbar trugen die Bediensteten keinen BH. Und auch kein Höschen. Dieses Mädchen stand definitiv schnell zu Diensten.
Er machte ein paar Aufnahmen von ihrem Gesicht, fing ihre rabenschwarzen Augen, ihre frische, glatte Haut, ihre vollen Lippen, ihr bezauberndes Lächeln ein. Als er ihr mit Komplimenten ausgiebig geschmeichelt hatte, fragte er: »Bekommen Sie eigentlich auch mal frei? Ich hätte nichts dagegen, Sie ein bisschen besser kennenzulernen. Bei ein paar kleinen Privataufnahmen.«
»Das lässt sich einrichten, Mr. Roth.«
»Nenn mich ruhig William, Liebes.«
»Okay, William.«
Die Formalitäten waren schon mal geklärt. Jetzt konnte er also auch in ihre ihm noch unbekannten Gebiete vorstoßen. Er konnte es kaum erwarten, in ihre persönlichen Gefilde einzudringen, und ging voller Vorfreude auf sie zu, mit funkelnden, lüsternen Augen, in denen sie versinken sollte. Etwas kroch ihm übers Gesicht und er wischte es weg.
Schreck lass nach, war das eine
Spinne
? Es
ist
eine Spinne!
Ängstlich wich er zurück und sah das Netz, das die Spinne wie eine feine Trennwand zwischen ihm und Lilith gesponnen hatte, die Fäden, die sich wie goldener Draht von einem Brückengeländer zum anderen zogen. Er hasste Spinnen. Überall auf dieser gottverdammten Welt, ob nun in der afrikanischen Steppe oder in der arktischen Tundra, gab es diese ekligen Biester, die sich mit ihren kneifzangenartigen Beinchen auf ihre Opfer stürzten. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass es auf der ganzen Erde so viele Spinnen gab, dass man alle zwei Meter einer begegnete.
Er schaute nach unten auf die Holzbretter der Brücke. Das gelb gestreifte Ungeheuer steuerte auf einen Spalt zu, Millimeter um Millimeter kämpften sich seine fadendünnen Beine voran, sein verdorbenes Hirn nur darauf aus, sich über Roths Hilflosigkeit zu amüsieren. Mit seinem Stiefel trat Roth auf die Spinne, zermalmte sie, drückte sie in die Furchen des Holzes. Schickte ihre Seele in die Spinnenhölle, wo sie von Gott hoffentlich mit nichts anderem außer dem giftigsten Insektizid gefüttert werden würde.
»Sorry, meine Kleine«, sagte er zu Lilith. »Ich hoffe, du hast dich jetzt nicht erschrocken.«
Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. »Sie haben die Spinne ja nicht umgebracht. Nur hinüber geschickt.«
»Was meinst du damit?«
»Lebende Dinge sterben niemals, sie gehen nur durch die tieferen
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