Die Ueberbuchte
Himmels willen«, winkte er gespielt entsetzt ab, »du bist ja noch schlimmer als …«, er stockte plötzlich und schaute zur Seite.
»Als Ruth, nicht wahr, das wolltest du doch sagen?«
Er zog es vor nicht darauf zu antworten.
Dafür aber klopfte es an der Wohnungstür.
»Ja, bitte!«, rief Knut, und zu Lena gewandt: »Das wird Arne, mein Bruder sein, der sich verabschieden will.«
Es war sein Bruder, reisefertig im gut sitzenden, hellen Anzug, komplettiert durch einer dezent dazu passenden Krawatte, sah er plötzlich sehr distanziert geschäftsmäßig aus, so dass sich Lena unwillkürlich respektvoll im Hintergrund hielt.
Knut hingegen klopfte seinen Bruder kameradschaftlich aufmunternd auf die Schulter. »Kopf hoch, mein Alter, Franziska wird sich schon wieder fangen – sie weiß doch was sie an dir hat.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, aber du kennst Franziska nicht, sie kann unendlich stur sein.«
»Quatsch, das glaube ich nicht, nicht dir gegenüber – sie liebt dich doch.«
»Nun, wir werden ja sehen«, sagten Arne und streckten Knut die Hand zum Abschied hin. »Halte dich tapfer, damit du bald wieder gesund wirst!« Dann streckte er Lena lächelnd die Hand entgegen. »Es hat mich außerordentlich gefreut, Sie kennengelernt zu haben; was hoffentlich nicht das letzte Mal gewesen sein wird. Und bitte, passen Sie recht gut auf unseren Kranken auf, damit er nicht noch mehr Blödsinn verzapft.« Und halb abgewandt. »Macht’s gut ihr beiden, und alles Gute!«
Nachdem Arne gegangen war, herrschte eine eigenartige, bedrückende Stille im Raum. Eine Stille, die irgendwie weh tat, weil sie all die Ohnmacht menschlicher Gefühle beinhaltete. Keiner von beiden wagte daher das erste Wort zu sagen, obwohl beide wahrscheinlich das gleiche dachten; eine Ehekrise.
Lena war es denn auch, die als erste die Stille brach. »Was ist mit Franziska, seiner Frau?«
»Was soll schon sein«, antwortete Knut brüsk, »eifersüchtig ist sie.«
»Etwa zu Recht?«
Knut zuckte die Schultern. »Wer weiß das schon so genau.« Er zögerte etwas, dann sagte er mit einigen Nachdruck: »Nein, keinesfalls, bei Arne kann ich mir das nicht vorstellen! Nein nein, er ist für so etwas viel zu korrekt, viel zu konservativ.«
»Oh, wenn du dich da mal nicht täuschst! Unterschätze gerade diese Menschen nicht! Denn gerade bei diesen besonders zurückhaltenden, besonders konservativen Menschen, wie du zu sagen pflegst, brodelt die Leidenschaft oft umso heftiger, und wehe wenn sie freigesetzt wird.«
»Und du meinst Arne könnte ein solcher Vulkan sein?«, lachte Knut amüsiert auf.
»Warum nicht! Außerdem weiß ich nicht was es da zu lachen gibt.«
»Nein, mein Liebes, ich glaube, darin täuschst du dich gründlich, denn Arne als einen feurigen Vulkan vorzustellen, das fällt mir verdammt schwer!«, lachte er herzlich.
»Wenn du meinst«, mimte sie völlige Gleichgültigkeit, obwohl ihr der innere Widerspruch anzumerken war. Und zu ihrer Verteidigung, fügte sie wie beiläufig hinzu: »Er ist schließlich dein Bruder, den du ja besser als alle anderen kennen musst.«
»Na ja …«, weiter kam er nicht.
Ihm schien plötzlich etwas eingefallen zu sein, was ihm augenscheinlich zum Nachdenken zwang – zumindest war seine plötzliche Abwesenheit nicht anders zu erklären. Erst als Lena ihn leicht am Arm anstieß, bequemte er sich da fortzufahren, wo er abrupt aufgehört hatte: »Ach so – naja, was ich sagen wollte, du wirst das vielleicht nicht recht verstehen können und wahrscheinlich auch gar nicht wollen«, druckste er herum. »Nun – ich kenne meinen Bruder wahrscheinlich genauso wenig wie du. Wenn ich nicht im Frühjahr, bedingt durch meine längere Krankheit erfahren hätte, dass er zurzeit in den neuen Bundesländern arbeitet, hätte ich das womöglich bis heute nicht gewusst – sowie vieles andere mehr. Es hat mich aber auch nicht besonders interessiert …«
»Ach ja, ich erinnere mich, du hast es auf der Insel einmal erwähnt.« Sie senkte den Kopf und überlegte. Plötzlich stand sie auf, lief einige Schritte umher, um dann vor ihm stehenzubleiben. »Sag mal, Knut, könnte es nicht auch sein, dass dein plötzliches schlechtes Gewissen, denn das ist es doch wohl?«, sah sie ihn fragend an, »nur aus deinem derzeitigen, überdimensionierten Hang zur Familienverbundenheit herrühren könnte? Vielleicht auch nur aus dem steten Bewusstsein heraus, eine für dich besonders wichtige, moralische Eigenschaft versäumt zu haben?
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