Die Ueberbuchte
Denn, überleg doch mal, du warst seit deiner frühesten Jugend an immer nur auf Achse, verfügtest daher weder über einen dauerhaften Endpunkt, noch über irgendeine engere Beziehung, die Verpflichtung für dich bedeutet hätte – also, weshalb dann das schlechte Gewissen? So egoistisch sich das auch anhören mag, doch der Mensch ist letztendlich immer nur für sich selbst verantwortlich – je eher wir das begreifen, je mehr Enttäuschungen bleiben uns erspart. Egal wer du bist und was du tust, du bist und bleibst ein Individuum, ein Einzelwesen also, das immer und ewig auf sich allein gestellt sein wird. Ich könnte dir eine Menge Beispiele aufzählen, wo dir in gewissen Situationen plötzlich ungeschminkt verdeutlicht wird, wie vollkommen allein du im Grunde bist – wo dir nichts und niemand helfen kann, so sehr der Wunsch auch vorhanden sein mag. Oder etwa nicht?«
»Sicherlich, das mag ja alles stimmen und doch mag der Spruch: Geteiltes Leid ist halbes Leid, nicht völlig aus der Luft gegriffen sein. Stell dir vor, wo kämen wir sonst hin, wenn es tatsächlich nur noch Einzelkämpfer, sprich Egoisten auf der Welt geben würde. Wo bliebe da die Güte, die Liebe, die aufopfernde Fürsorge, wenn wir nur noch an uns selbst denken? Nein, Lena, das will mir nicht recht einleuchten, und noch weniger könnte ich das akzeptieren.«
»Das verlangt auch keiner von dir. Ich habe dir lediglich klarzumachen versucht, dass es trotz allen wertvollen Eigenschaften, deren ein Mensch fähig ist, die Augenblicke totaler Einsamkeit, das ganz allein auf sich gestellt sein, durch nichts wirklich verhindert werden kann. Du kannst weder durch die absolute Liebe, Güte, und was auch immer du darunter verstehen magst, verhindern, dass du dich hin und wieder von aller Welt verlassen fühlst und es zumeist auch bist. Das beweist einmal mehr, dass die sogenannte Abhängigkeit, aus welchen Gründen auch immer, einem Selbstbetrug gleichkommt. Deshalb plädiere ich dafür, rechtzeitig loszulassen, bevor es zu unschönen Verstümmelungen der Beziehungen führt.«
Knut klatschte Beifall. »Gott, was für ein ausgeklügeltes Plädoyer! Ich habe zwar vom ersten Tag an gewusst, dass du alles andere als pflegeleicht bist, aber für derart schwierig hätte ich dich nun wahrlich nicht gehalten«, sagte er halb bewundernd und halb spöttisch.
»Ach du«, drohte sie ihn mit dem Finger. »Ich weiß sehr wohl, was dir speziell als Frau vorschwebt; eine, nach allen Seiten hin dich verwöhnende, anschmiegsame, nie widersprechende, zärtliche Hausfrau; also mit deinen eigenen Worten ausgedrückt: absolut pflegeleicht.«
Er lachte. »Du kannst deinen Zynismus getrost steckenlassen, der steht dir nämlich überhaupt nicht! Denn du kannst dich noch so widerborstig geben, im Grunde bist du ein warmes, weiches Menschenkind, wie ich mir besser keines vorstellen kann.«
Darauf wusste Lena nichts zu erwidern. Sie senkte verwirrt den Kopf, um die vor Freude aufsteigende Röte zu verbergen. Und sie hatte auch nichts dagegen, als er sie liebevoll in seine Arme schloss.
Aus wirren Träumen, schweißnass und wie benommen, wachte Lena mitten in der Nacht auf. Sie setzte sich im Bett auf und sah zu Knut hinüber, der zwar trotz schweren Atems verhältnismäßig ruhig schlief. Obwohl die Balkontür weit offen stand, kam nicht der leiseste, erfrischende Windhauch herein. Die feuchtwarme Luft staute sich auf unangenehmster Weise im Zimmer, es war stickig und heiß. So entschloss sie sich den Rest der Nacht draußen auf dem Balkon zu verbringen. Knuts bequeme Liege unter dem überhängenden, schützenden Dach, lud förmlich dazu ein. Es störte sie auch nicht, dass die nachtaktiven Insekten sich ringsumher im dunstigen Mondlicht tummelten. Im Gegenteil, sie musste sogleich eingeschlafen sein, denn als sie im Morgengrauen von röchelnden Husten und schnaufenden Geräuschen aus Knuts Schlafzimmer kommend, geweckt wurde, bemerkte sie, dass sie einige Stunden fest geschlafen haben musste.
Sie horchte in den diesigen Morgen hinein. Die extreme Feuchtigkeit haftete an allem. Da aber drang wiederum das röchelnde Geräusch, welches sie vermutlich geweckt hatte, an ihr Ohr. Das konnte nur Knut sein …
Rasch schlug sie die dünne, vom Nachtdunst feuchte Decke zurück und eilte barfuß in Knuts Schlafzimmer. Die von der Schweißausdünstung stickige Luft nahm ihr fast den Atem. Und beim näheren Hinsehen erkannte sie sofort, dass es Knut nicht gut ging. Sein Bett war
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