Die Ueberbuchte
du jemand erreicht?«, fragte Lena, nachdem sie miteinander allein waren.
»Ja, meine Schwester. Meine Mutter ist, wie ich bereits geahnt habe, gesundheitlich gar nicht gut dran. Das war mir neulich bei meinem letzten Besuch schon aufgefallen, wie verändert sie aussah.«
»Dann ist sie wohl bei deiner Schwester?«
»Nein, leider, die beginnende Saison lässt das nicht zu.«
»Ach ja, ich erinnere mich, du hast es einmal erwähnt, dass sie eine kleine Pension auf Sylt besitzt.«
Er nickte. »Es ist irgendwie furchtbar, denn obwohl ich meine Mutter höchst selten besucht habe, würde sie mir eines Tages unwahrscheinlich fehlen; schon weil es dann kein Zuhause mehr für mich gäbe.«
Lena legte die Hand auf seine Schulter. »Das ist nun einmal der Lauf der Zeit, dass immer etwas vergeht und gleichzeitig etwas Neues entsteht. Und meistens ist es doch so, dass erst der Verlust den wahren Wert ans Tageslicht befördert.«
»Ja, so ist es – leider …«
Sie waren dabei an der Treppe angelangt, wo sich ihre Wege trennten.
Ein leises »gute Nacht« noch, und schon war jeder mit sich allein.
Der Sonnenbrand hatte Lena einen unruhigen Schlaf beschert. Sie träumte unsäglich wirres Zeug und war heilfroh als die Nacht endlich vorüber war. Vorsichtig öffnete sie die Balkontür, denn die knarrte etwas, was in der extremen Stille als laut gelten konnte. Der erfrischende Lufthauch der hereinströmte war sehr angenehm – tat ihr ordentlich gut. Tief atmete sie die klare Luft ein und spürte dabei, wie auch aus dem letzten Winkel ihres Kopfes, allmählich der dämpfige Druck wich.
Bei aufgehender Sonne nun, stiegen aus den zahlreichen kleinen Buchten, zarte weiße Morgendünste auf, die, wenn man genau hinsah, sich in faserigen Streifen mit dem Sonnenlicht verbanden.
Unter ihrem Balkon tauchte plötzlich der kleine braungebrannte Mann von gestern Abend auf, der mit der tiefgefurchten Stirn und dem etwas störrisch wirkenden, graumelierten Haar; der mit einem unverwüstlichen Humor glänzte. Der Sprache nach konnte er nur ein Rheinländer sein.
»Guten Morgen, schöne Frau, kommen Sie mit zum Schwimmen?«, rief er da auch schon mit seiner tiefen Stimme zu ihr hinauf.
»Jetzt schon? Ist das nicht ein bisschen früh?«
»Papperlapapp, dem Thermalpool ist das doch egal! Zumal für Sie, wo Sie die Hintertür direkt vor der Nase haben.«
»Hintertür …?«, wunderte sich Lena.
»Natürlich, gleich die nächste Tür.«
»Da steht aber doch ›Privat‹ dran?«
»Macht nichts«, lachte der Mann, so dass eine Reihe leuchtend weißer Zähne sichtbar wurden. »Warten Sie einen Moment, ich werde es Ihnen beweisen.«
Tatsächlich steckte er wenige Augenblicke später seinen Kopf zur besagten Tür herein. »Sehen Sie, so einfach geht das!« Aber gleichzeitig legte er den Finger an die Lippen und machte: »Pst! Das müssen nicht gleich alle wissen.«
»Ich komme gleich«, flüsterte Lena und huschte in ihr Zimmer zurück, um den Badeanzug anzuziehen. Den Bademantel hatte sie sich nur lose um die Schultern gehängt und die Badelatschen trug sie in der Hand. »Das ist vielleicht praktisch, nicht erst durch die Hotelhalle zu müssen!«, rief sie den Mann im Wasser zu, der bereits seine ersten Runden zurückgelegt hatte.
Später dann, als sie vom Schwimmen genug hatten, ließen sie sich auf der breiten Stufe nieder, so dass sie auch weiterhin bis zu den Schultern im warmen Wasser blieben.
»Wir sind schon zum dritten Mal hier«, sagte der kleine Mann. »Hauptsächlich wegen meinen ständigen Rückenschmerzen, die manchmal kaum auszuhalten sind. Es ist schon ein Kreuz mit dem Kreuz«, röhrte er mit fuchtelnder Handbewegung. »Und Sie«, wandte er sich ihr wieder zu. »Sie sind wohl zum ersten Mal hier, wie ich vermute?«
»Ja, leider. Ich würde auch am liebsten jedes Jahr wiederkommen.«
»Und warum tun Sie’s dann nicht?«
»Gott, warum wohl …?«
»Ach so, stimmt ja, Sie kommen aus dem Osten.« Er stockte plötzlich und machte eine beschwichtigende Handbewegung, als er Lenas abweisendes Stirnrunzeln bemerkte. »Ich weiß schon, ›neue Bundesländer‹ heißt das jetzt. Aber sind Sie doch mal ehrlich, an dem Ost- und Westgerede wird sich so schnell nichts ändern – neue Bundesländer, wie das schon klingt! Nun, die Hauptsache ist, euch geht es jetzt wesentlich besser. Denn mein Neffe war neulich in Leipzig zur Messe, und da hat er erzählt, was da alles gebaut wird. Selbst in den kleinsten Ortschaften wurden eine
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