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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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Tonbehälter gefunden hatte, wie er behauptete – obwohl es in Wahrheit die Hunde gewesen waren, die sie ausgebuddelt hatten. Sie war damals eine Woche alt, aber die anderen hielten sie für eine Hexe, weil sie partout nicht sterben wollte. Zuerst gaben sie ihr Opium, und dann steckten sie sie in einen Topf mit Milch und drehten ihn ganz schnell im Kreise. Doch wie durch ein Wunder wurde die Milch zu Butter, und das schreiende Kind darin lebte immer noch. Selbst das Opium brachte sie nicht zum Einschlafen. Die Hebamme hatte es mit der Angst zu tun bekommen und war davongerannt, weil sie meinte, Sharda hätte verkrümmte Füße – ein klares Anzeichen dafür, dass sie eine Hexe war.
    Schließlich fasste sich meine Großmutter ein Herz und gab Anweisung, das verfluchte Kind des Nachts in einem Tongefäß in der Erde zu vergraben. Das Pech war nur, dass die Hunde sie wieder ausgruben und Jitu sie zurück nach Hause schleppte. Weil sie vor Hunger schrie, tauchte er Baumwollfetzen in Milch und fütterte sie damit wie einen Welpen. Und so wurde aus Sharda Sita, weil man Sita, die erste Frau von Ramnath, nämlich auch in der Erde vergraben gefunden hatte. Sita wurde Jitus ganz besonderes Pflegekind.
    Und als sie dann älter wurde, war es Jitu, der herausbekam, wo sie nachts hinging. Vor ihm konnte man nichts verbergen.
    Danach änderte sich sein Verhalten ihr gegenüber. Das hatte damit zu tun, dass wir zu einer höheren Kaste gehörten und der Mann, mit dem Sharda zusammen sein wollte, zu einer niederen. Und es hatte damit zu tun, dass sie eine Hexe war und eine Schlangenbrut und widerspenstig. Und damit, dass sie ein Mädchen war. Es zog sich tagelang hin. Sie versuchten, mit ihr alles anzustellen, was sie ihr gleich nach ihrer Geburt angetan hatten. Jitu, eben der Jitu, der ihr das Leben gerettet hatte, versuchte jetzt, es auszulöschen. Wie war es nur möglich, dass ein Mädchen in sechzehn Lebensjahren zwei Mal das Gleiche durchmachen musste … außer, dass sie sie nicht mehr in einen Tontopf stopfen konnten, denn dazu war sie inzwischen zu groß.
    â—† ◆ ◆
    Der Tag hatte schon mal schlecht angefangen. Meine Mutter rief an, um sich wie immer über ihre Osteoporose und ihre Arthritis zu beklagen. Und darüber, dass sie sich nicht sicher wäre, ob sie noch am Leben sein würde, wenn ich mich irgendwann endlich entschlösse, nach Hause zu kommen. (Ich war gerade mal sechs Tage fort.) Und nicht nur das: Ich musste mir auch zum wiederholten Male von ihr anhören, dass es ihr ja gar nichts ausmachen würde zu sterben, solange sie nur wüsste, dass ich jemanden hätte, der für mich sorgt, dass sie jetzt aber eben nicht in Frieden und Glückseligkeit die Augen schließen könne, weil ich ihr diese Freude genommen hätte, indem ich nicht den erstbesten Mann geheiratet hatte, der verrückt genug war, um meine Hand anzuhalten … und so weiter und so fort.
    Wenn ich an meinen letzten Freund zurückdenke, kommt es mir vor, als wäre es im vergangenen Jahrhundert gewesen. In der Welt, in der ich derzeit lebe, bleibt immer weniger Raum für Liebe und Zärtlichkeit, stattdessen treten Gemeinheit und Grausamkeit an ihre Stelle. Um ehrlich zu sein, beginnt mir der Mangel an Mitgefühl mit Durga allmählich an die Nieren zu gehen. Am ehesten war noch bei Harpreet Singh etwas davon zu spüren gewesen, doch bei all seiner redlichen Aufrichtigkeit war auch der Hauslehrer nicht in der Lage gewesen, mir ernsthaft weiterzuhelfen. Wenn mir nicht bald jemand einen Weg wies, musste ich mir wirklich Sorgen machen, dass Durga über kurz oder lang niemanden mehr auf ihrer Seite hätte – mich eingeschlossen. Wie lange konnte ich noch hier herumhängen und versuchen, hinter ihr Geheimnis zu kommen, um ihr helfen zu können? Ich wusste, dass Amarjit zusehends ungeduldiger wurde. Ich war jetzt schon fast eine Woche hier und hatte so gut wie nichts vorzuweisen. Es war ihm zwar gelungen, etwas Zeit für sie herauszuschinden, doch immerhin waren seit jener verhängnisvollen Nacht inzwischen drei Monate und sechs Tage vergangen. Für Durga hingegen war es noch viel zu früh, um die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie hatte erleben müssen, schon verarbeitet zu haben.
    Ich wünschte mir, sie auf einen Spaziergang mitnehmen zu können, auf einen Kinobesuch, ein paar ganz normale Abende mit ihr zu erleben, damit

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