Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
Vom Netzwerk:
Welt sollte nicht erfahren, wer er in Wirklichkeit war, also musste sie ihn irgendwo sicher verstecken. Für den Fall, dass auch ihm jemand wehtun wollte.
    Ich habe mich oft gefragt, ob dieser »jemand« mein Vater sein könnte, ihr Ehemann, Santji.
    â—† ◆ ◆
    Als der Zug den heruntergekommenen Bahnhof von Jullundur mit seinen ausgetretenen Treppen, baufälligen Perrons und arm- und beinlosen Bettlern verließ, lehnte ich mich mit einem wohligen Seufzer zurück. Ich war so viele Jahre nicht mehr hier gewesen und hatte doch tatsächlich erfolgreich verdrängt, wie schrecklich es hier war. Hinzu kam, dass man sich ständig vor Taschendieben in Acht nehmen musste, die einem die Geldbörse abzunehmen pflegten, während man den Zug bestieg. Das ganze Bahnhofsgelände war ein Minenfeld von Unbequemlichkeit und Unbehagen, und außerdem schien man sich hier auf Lautsprecheransagen auf Swahili spezialisiert zu haben, die immer erst dann erfolgten, wenn der Zug bereits anfuhr. Bevor es einem also so recht klar war, dass der Zug, den man nehmen wollte, soeben über Lautsprecher angekündigt wurde, war dieser längst aus dem Bahnhof gerollt.
    Und selbst wenn einen das alles nicht aufhielt, gab es noch längst keine Gewissheit, dass man sein Ziel auch erreichen würde, denn es kam häufig vor, dass sich in den Zügen Bomben befanden. Da man noch nie mit einem richtigen Selbstmordattentäter (das sind die, die ihren Sprengsatz in der Reisetasche bei sich tragen) zu tun gehabt hatte, beschränkte sich die Bahnpolizei darauf, durch die Abteile zu gehen und kleine schwarze Sticker mit Zahlen darauf auf die Gepäckstücke zu kleben – in dem schlichten Glauben, dass jeder Reisende mit so einer Nummer auf einem schwarzen Aufkleber auf seinem Koffer nicht nur sein Gepäck jederzeit wiederfände, sondern es auch gar nicht erst wagen würde, den Zug in die Luft zu jagen. Dieses unerschütterliche Vertrauen in die Macht der Zahlen und den Wunsch, seinen Besitz zu wahren, trotzte jeglichem gesunden Menschenverstand.
    Und falls es einen tröstete – man konnte während einer Eisenbahnfahrt in Indien auch aus anderen Gründen sein Leben lassen: durch die Benutzung der verdreckten Toiletten etwa oder den Genuss des fettigen Essens. Doch zumindest war ich jetzt unterwegs. Und ich atmete noch. Ich war von den jüngsten Ereignissen zwar ein wenig angeschlagen – aber immer noch am Leben.
    Am Morgen war ich beim Hausmeister des Gästehauses vorstellig geworden, um ihm mitzuteilen, dass ich für zwei Tage nach Amritsar fahren würde. Ich merkte, dass er sich ein wenig um mich zu sorgen schien. Gewiss waren bereits Berichte über leere Bierflaschen und übervolle Aschenbecher in meinem Zimmer zu ihm gedrungen und hatten ihm zu denken gegeben. Und wenn schon. Er war ja nicht mein Vater, also schuldete ich ihm auch keine Erklärung. Allerdings war mir klar, dass sämtlicher Tratsch über mich früher oder später auch Amarjit und Ramnath zu Ohren kommen würde, den beiden zentralen Figuren bei den Ermittlungen gegen Durga und damit auf eine gewisse Weise meine Verbündeten. Im Grunde genommen war es mir gleich, was sie von mir dachten, aber mir war schon unangenehm aufgestoßen, dass ich nie zu ihnen nach Hause eingeladen wurde, wie es die Gastfreundschaft des Punjab eigentlich verlangte.
    Konnte das mit meinem in ihren Augen bewusst pubertären Auftreten zu tun haben, meiner Unfähigkeit, mich unterzuordnen? Waren sie besorgt, dass ihre Frauen und Kinder durch meine Gegenwart einem schädlichen Einfluss ausgesetzt sein würden? Das wäre allerdings etwas sonderbar gewesen, denn mir war schließlich nicht entgangen, dass eine der beiden Ehen sowieso nicht mehr funktionierte, während die andere nur auf purem Ehrgeiz fußte. Der Umstand, dass ich in der Vergangenheit bezichtigt worden war, für Amarjits zunehmende Entfremdung von seiner Frau verantwortlich zu sein, war längst nicht mehr von Bedeutung. Letzten Endes hatten wir uns, jeder auf seine Weise, damit arrangiert, denn wenn das irgendwie noch ein Problem gewesen wäre, hätte man mich bestimmt gar nicht erst nach Jullundur bestellt. Es musste also einen anderen Grund dafür geben, dass die beiden mich so ostentativ außen vor ließen.
    Obwohl ich mich tröstete, indem ich mir einredete, dass ihr Desinteresse an mir mich nicht wirklich wurmte, war

Weitere Kostenlose Bücher