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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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was ich über sie in Erfahrung gebracht hatte, konnte ich nur den Schluss ziehen, dass auch Sharda ihrer Familie »ungelegen« geworden war. Vermutlich war man hinter ihre Liebschaft mit Jitu gekommen und wollte ihr eine Lektion erteilen, die nur darin bestehen konnte, dass sie »verschwand«. Sie hatte eine Grenze überschritten. In einer kleinen Stadt wie Jullundur war außerehelicher Sex tabu. Einzig und allein die Familienältesten hatten darüber zu bestimmen, wen eine Frau heiratete und mit wem sie schlief.
    Als der Zug in den Bahnhof von Amritsar einlief, drängte sich plötzlich ein Schwarm rot gewandeter Kulis in mein Abteil. Ich schob sie ebenso beiseite wie die Depression, die mich in diesem Augenblick zu übermannen drohte, und versuchte, mich in der Menge aus indischen Touristen und Pilgern, die den Goldenen Tempel von Amritsar besuchen wollten, zum Ausgang durchzudrängen. Draußen bekam ich ein Taxi zu fassen und wies den Fahrer an, mich zu der im hiesigen Volksmund immer noch Pagal Khana genannten Institution zu bringen – dem »Irrenhaus«.
    In den fünfziger Jahren errichtet, bedient die Klinik nach wie vor sämtliche umliegenden indischen Bundesstaaten – und das mit nur etwa dreihundert Betten in der Frauenabteilung. Hierher kommen Patienten aus Haryana, dem Punjab und Himachal Pradesh, die zusammen mindestens fünfundzwanzig Millionen Einwohner haben. Wie bei allem anderen in diesem Land musste man also auch um einen Platz im Irrenhaus kämpfen . Man wurde hier nur auf besondere Empfehlung aufgenommen, sprich, man musste jemanden kennen.
    Mit seiner hässlichen grau-roten Fassade war das Gebäude kaum zu übersehen. Nachdem ich mich an der Rezeption ausgewiesen hatte, begab ich mich auf den Weg in die Verwaltung. Da ich keinen Termin vereinbart hatte, bat man mich zu warten, bis der Verwaltungsdirektor Zeit für mich erübrigen konnte. Aus dem Hintergrund drangen Geräusche wie aus einem Fitnessraum an mein Ohr, die sich in das gleichförmige Dröhnen eines Fernsehsprechers, der die Nachrichten vorlas, mischten. Ein paar Frauen in weißen Saris gingen ein und aus, und neben mir saßen zwei besorgt dreinblickende Ehepaare. Eines von ihnen begleitete einen offensichtlich kranken jungen Mann, der sich ständig abrupt von seinem Platz erhob und auf und ab zu gehen begann, wobei er den übrigen Anwesenden keinerlei Beachtung schenkte. Nach einer Weile gab ich es auf, mitzuzählen, wie oft er aufgestanden war und sich wieder hingesetzt hatte.
    Auf jeden Fall hörte ich keine Schreie und erblickte auch keine unkontrolliert herumlaufenden Patienten, aber ich war mir sicher, dass die ernsteren Fälle wohl auf irgendwelchen Stationen tief im Inneren des Gebäudes eingesperrt waren, von wo keine Geräusche nach außen drangen.
    Als ich nach einer Viertelstunde schließlich zu Prakash Goel, dem Verwaltungsdirektor, vorgelassen wurde, stellte ich sogleich fest, dass er und ich uns bereits in Delhi auf ebenjener Konferenz über die Behandlung psychisch kranker Frauen begegnet waren. Das machte uns den Einstieg in unser Gespräch leichter, bei dem im Übrigen nur zu offensichtlich wurde, dass er seine Stellung gerade erst angetreten hatte und sich erst noch einarbeiten musste. Ich erklärte ihm, dass ich an den Ermittlungen im Mordfall Atwal beteiligt sei und dazu Unterlagen über Durgas Schwester benötigte.
    Â»Sharda Atwal. Lassen Sie mich mal schauen.«
    Er griff zum Hörer, um die Akte anzufordern, dann erzählte er mir von den Verbesserungen, die er in seiner Klinik vorzunehmen gedachte. Er stammte aus einer Ärztefamilie, die sich in Großbritannien niedergelassen hatte, und besaß noch so viel Idealismus, dass er glaubte, wirklich etwas verändern zu können, was ihn auf angenehme Weise von mir, der Zynikerin, die sich keine Illusionen mehr machte, unterschied.
    Â»Ich wünschte mir, die Familien würden sich mehr einbringen. Manche von unseren Patientinnen könnten wir sofort nach Hause schicken, denn sie haben nichts, was sich mit ein wenig Liebe und Zuneigung nicht kurieren ließe, also versuche ich, ein Rehabilitationszentrum aufzubauen, wo sie hingehen und wo sich ihre Nerven beruhigen können. Und wer weiß … vielleicht werden ein paar von ihnen wirklich wieder ganz gesund.«
    Er vertrat die These, dass Nähe der Schlüssel zur Genesung sei; wenn man diesen

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