Die Ueberlebende
zu können â eine ausgesprochen verstörende Entdeckung.
Ich habe leider die Erfahrung machen müssen, dass in Indien Kliniken für Geisteskranke selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert noch dazu dienten, sich »ungelegener« Angehöriger zu entledigen â diesen Ausdruck hatte Harpreet Singh jedenfalls benutzt, und das wahrscheinlich ganz bewusst: Viele Frauen wurden hier aus keinem anderen Grund eingewiesen, als dass sie ihren Familien irgendwie lästig waren. Ein beträchtlicher Anteil der Frauen in solchen Kliniken hatte die Lebensmitte bereits überschritten und war einfach weggesperrt worden, weil ihre Ehemänner oder ihre Familie es zunehmend leid gewesen waren, unter einem Dach mit ihnen zu leben â sei es, weil sie zu streitsüchtig waren oder zu selbstbewusst. Oft steckten auch Erbangelegenheiten dahinter oder der Wunsch des Mannes, sich neu zu verheiraten. Auf jeden Fall stellte diese Art der Abschiebung gegenüber einer Scheidung die weitaus kostengünstigere Alternative dar.
Dieser unmenschliche Umgang mit Frauen war erst jüngst in einem Bericht des Nationalen Menschenrechtskomitees bei einer Konferenz, an der ich teilgenommen hatte, ausführlich dokumentiert worden. Natürlich gab es Fälle, bei denen tatsächlich eine ernsthafte psychische Störung vorlag, doch selbst wenn die Familie es dann nicht übers Herz brachte, die betreffende Frau aus dem Haus zu verstoÃen, drohte ihr nichtsdestotrotz ein Martyrium: Wenn die Familie einfach nicht mit der Kranken zu einem Arzt geht, weil sie entweder zu arm dazu sind oder selber nicht genug Verstand besitzen, um es besser zu wissen, werden die unglücklichen Frauen in vielen Fällen eben zu Hause ans Bett gefesselt oder sonst wie mit Ketten in ihrem Zimmer festgehalten. Da liegen sie dann in ihrem Kot und Schmutz und bekommen ihr Essen in einem Napf hingestellt wie ein Tier. Statistische Angaben über psychische Erkrankungen in Indien geben ein völlig verzerrtes Bild, da die meisten Familien ihr Bestes taten, um eine solche Erkrankung zu vertuschen. AuÃerdem ist den Kranken oft schon infolge von Misshandlung oder Verwahrlosung ohnehin kein langes Leben beschieden; die glücklicheren unter ihnen werden manchmal, oft nur noch mit Fetzen am Leibe und halb verhungert, dabei aufgegriffen, wie sie ziellos auf den StraÃen umherirren â ohne sich überhaupt bewusst zu sein, in welcher Misere sie sich befinden.
Eine couragierte Untersuchung hat aufgezeigt, dass es in Indien weniger als drei Psychiater pro eine Million Einwohner gibt â eine erbärmliche Zahl und ein völlig unproportionales Verhältnis angesichts der weit verbreiteten Armut in der Bevölkerung und den dadurch ausgelösten sozialen Spannungen, deren wahres Ausmaà sich erst in jüngster Zeit abzuzeichnen begonnen hat. Wenn vierzig Prozent der Bevölkerung eines Landes keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen und medizinischer Versorgung, ja nicht einmal zu genügend Nahrungsmitteln haben, wird sich dies zweifelsohne irgendwann auch in enormen psychischen Problemen niederschlagen. Anlaufstellen für Betroffene jedoch sind rar. Sollte es uns nicht wirklich zu denken geben, dass in den meisten Staaten der westlichen Welt mindestens hundert Psychiater auf eine Million Einwohner kommen? Und bei den wenigen, über die wir verfügen, ist es auch noch fraglich, ob sie für ihre Aufgabe überhaupt qualifiziert sind. Ja, es liegt in der Tat noch ein langer Weg vor uns.
Ich wusste nicht, was mich im psychiatrischen Krankenhaus von Amritsar erwarten würde, doch während der Fahrt dorthin las ich ein Interview mit einem ehemaligen Leiter der Anstalt. Darin gab er zu, dass »geistesgestörte Patienten misshandelt, geschlagen, angekettet und gefoltert worden waren. Man zog sie zu Zwangsarbeiten heran und lieà sie niedere Tätigkeiten wie die Reinigung der FuÃböden und Sanitärräume verrichten; auch das Waschen der schmutzigen Bettwäsche wurde ihnen übertragen, ebenso wie die Reinigung inkontinenter Patienten â neben anderen Aufgaben â¦Â« Für ihre Bemühungen wurden sie dann mit Elektroschocks ohne vorherige Anästhesie belohnt. Ein Pfleger hatte entlassen werden müssen, weil er eine Patientin brutal zusammengeschlagen hatte. Dies alles hatte sich vor fünf Jahren zugetragen â etwa zu der Zeit, als Sharda dort eingewiesen wurde.
Aus dem Wenigen,
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