Die Ueberlebende
lassen, wo ich sie finden würde. Das war in einem Dorf in Hoshiarpur, wo man sie bei einem alten Mann untergebracht hatte, einem Exorzisten, denn ihre Familie behauptete, sie wäre vom Teufel besessen. Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt. Sie war früher so schön gewesen, und nun bestand sie nur noch aus Haut und Knochen, hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und überall Schwielen und Beulen am Körper von den Schlägen und den Verbrennungen und der unzureichenden Ernährung. Sie weigerte sich, etwas zu essen, aber sie griff sich jedes kleine Kind, um es sich an die Brust zu drücken. Es wären ihre Kinder, sagte sie dann. Die Leute im Dorf glaubten schon, sie wolle ihnen ihre Kinder wegnehmen. Manchmal schrie sie auch nach Durga und schlug sich auf den Kopf, bis er blutete. Wir konnten dort nicht bleiben, also bin ich nur für einen Tag zurückgefahren, um Vorkehrungen dafür zu treffen, sie mitzunehmen ⦠das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
Ich holte das Foto von dem Mädchen auf dem Bett aus meiner Tasche.
Er sah es sich an und nahm es mir sehr vorsichtig aus den Fingern. Dann schwieg er eine ganze Weile.
»Wo haben Sie das her?«
»Aus dem Haus. Haben Sie eine Vorstellung, wo es aufgenommen worden sein könnte?«
Er war offensichtlich um eine Antwort verlegen, scheinbar hatte er die Fotografie noch nie zuvor gesehen.
»Ich weià es nicht«, sagte er schlieÃlich. »Möglicherweise in der Anstalt?«
»Ja, und wo mag sie jetzt wohl sein?«, fragte ich und wünschte mir inständig, von ihm zu hören, dass er es nicht wüsste. Ich bemühte mich, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
»Die Familie hat mir gesagt, sie hätten mir alles über sie erzählt, was es zu erzählen gäbe.«
»Jemand weiÃ, wo sie ist, und diesem jemand liegt auch immer noch etwas an ihr. Denn warum sonst würde Amarjit immer noch rausfinden wollen, wo sie sich aufhält?«
»Er weià hundertprozentig, wo sie ist. Es war nämlich Ramnath, der dafür gesorgt hat, dass sie in die Anstalt kommt, damit niemand von dem Kind erfährt. Ihr Vater hat ihn vermutlich gebeten, sich etwas einfallen zu lassen. Er braucht sich keine Gedanken darum zu machen, ob sie tot oder lebendig ist, denn in ihrem Zustand stellt Sharda für ihn keine Bedrohung mehr dar ⦠Sie wird sich nie wieder so weit erholen, dass sie eine Aussage gegen ihn oder seine Mitverschwörer in der Klinik machen könnte â falls es das ist, was ihm Kopfzerbrechen bereitet. Jedenfalls wurde Sharda systematisch missbraucht. Schwerkriminelle werden zu dem alleinigen Zweck in die Anstalt eingewiesen, sie vor dem Galgen zu bewahren, während man andere absichtlich in den Wahnsinn treibt, damit Ramnaths Kontaktpersonen zufrieden waren ⦠zu diesen anderen gehörte auch Sharda.«
»Haben Sie irgendeinen Beweis dafür? Ich bin mit dem jetzigen Direktor der Klinik gut bekannt ⦠vielleicht können wir doch etwas tun?«
»Veranstalten Sie bloà nicht zu viel Aufhebens. Seien Sie vorsichtig, sonst erklären die Durga auch noch für verrückt. Dieser neue Direktor muss auch irgendwie sehen, dass er überlebt. Wer im Glashaus sitzt, darf nicht mit Steinen werfen.«
»Wie viel weià Durga von alledem?«
»Das meiste ⦠nun werden Sie verstehen, warum sie so verstockt ist. Sie hat ihre Schwester geradezu vergöttert.«
»Aber wie konnten die das einfach so tun? Wieso hat niemand etwas gesagt oder getan, um Sharda zu retten?«
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Es ist eine reiche, angesehene Familie. Sie leiten Schulen und Waisenhäuser. Ammiji betete jeden Tag sechs oder sieben Stunden lang ohne Pause, und Santji, wie der Vater genannt wurde, gab ständig Geld für wohltätige Zwecke. Es war für jeden Geld genug da, auch für Amarjit und für Ramnath. Das einzige Problem bestand darin, dass sie einfach keine Mädchen in der Familie haben wollten, und wenn sich denn doch welche einstellten, hatten diese einem strikten Verhaltenskodex Folge zu leisten. Das ist übrigens der Grund, wieso Sharda überlebt hat. Die Ultraschalluntersuchung, die man in der Anstalt bei ihr vorgenommen hat, zeigte, dass sie einen Sohn erwartete. Das hat ihr das Leben gerettet.«
Ich kramte das Foto aus Shardas Anstaltsakte hervor. »Ist sie das?«
»So sah sie aus, als ich sie
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