Die Ueberlebende
aufgeworfen, wo Sharda sich befindet. Und er ist vor den Morden gekommen â anonym, aber der Absender oder die Absenderin hat mir diese Aufnahme beigelegt, und daher muss eine bestimmte Absicht dahinterstecken.«
Er reichte mir dasselbe Foto, das ich mir auch schon so häufig angesehen hatte â Sharda auf dem Bett. Ich gab es ihm zurück. Das Begleitschreiben in Gurmukhi erinnerte mich an die Handschrift in Shardas Büchern. Sie wies ebensolche ausgesprochen dekorativen Schnörkel auf. Aber ich war mir unschlüssig, ob ich das zu diesem Zeitpunkt schon erwähnen sollte, zumal sich die Bücher ja ohnehin bei Harpreet befanden.
»Warum haben Sie in Ihrer Zeitung nicht darüber berichtet?«, erkundigte ich mich stattdessen.
»Mein Verleger hat sich geweigert, irgendetwas darüber abzudrucken. Wir befinden uns in einer kleinen Stadt, Simranji, und ein jeder hier hat noch groÃen Respekt vor dem alten Atwal. Auch über ihn habe ich zum Beispiel eine Menge Informationen, und er war ganz bestimmt kein Heiliger. Aber davon will niemand etwas wissen. AuÃerdem behauptet sogar Amarjitji, nicht zu wissen, ob es sich bei diesem Mädchen um Sharda handelt, also was soll ich da groà schreiben? Ich habe mir nur gedacht, dass ich mit Ihnen darüber sprechen sollte.«
Er hängte jedem Namen die Silbe »ji« an, wie es in Jullundur eben so üblich war. Ich merkte, dass jener Gurmit aus Bombay bereits wusste, wie man Freunde gewann und wie man Einfluss auf die Menschen ausübte.
Irgendwer hatte also dieses Foto genommen, mehrere Abzüge davon gemacht, und diese dann verschickt. Und das gerade erst vor fünf Monaten. Würde das bedeuten, dass Sharda noch am Leben war? Einer der Abzüge war ja sogar in Durgas Zimmer hinterlegt worden. Inzwischen schien das aber als ein ganz und gar sinnloses Unterfangen, selbst wenn es sich dabei um einen Erpressungsversuch gehandelt hatte, denn sämtliche Familienmitglieder waren ja inzwischen tot, und die letzte Ãberlebende befand sich in behördlicher Obhut.
Es sei denn, Sharda wäre von jemand ganz anderem entführt worden und die Familie träfe überhaupt keine Schuld. Was, wenn die Familie von einem Mörder als dessen Opfer ausgesucht worden war und dieser Mörder nicht einen einzigen Fingerabdruck zurückgelassen hatte? In diesem Fall hätte Harpreets Geschichte Löcher so groà wie Krater. Er hatte über die angespannte Beziehung zwischen Durga und ihrer Familie lamentiert, den Zorn, der sich in dem Mädchen aufgestaut hatte, das lieblose Dasein, das sie führen musste.
Gurmits Information konnte auf jeden Fall den entscheidenden Schlüssel zu einem Verständnis des Motivs für die Morde liefern. Hatte das Foto jemanden so in Rage gebracht, dass dieser jemand gleich die ganze Familie auslöschen wollte? Oder waren die Bilder als Warnung verschickt worden, dass den Rest der Familie das gleiche Schicksal erwartete â wenn wir davon ausgingen, dass Sharda tot war? Aber vielleicht war sie ja auch gar nicht tot.
»Haben Sie versucht, ihr auf die Spur zu kommen?«, fragte ich Gurmit.
»Das habe ich, und diese Spur führte eindeutig zu dem Haus in Company Bagh. Nach ihrem Aufenthalt in der Anstalt hat man sie dort hingebracht. Möglicherweise hatte man sie sogar eine Weile lang dort gefangen gehalten, aber ihre Leiche fand sich ja nicht unter den Toten. Doch nachdem die Polizei nun die Ermittlungen aufgenommen hat, ist es mir unmöglich geworden, dort weiterzuforschen.«
»Ich bin vor ein paar Tagen dort gewesen, aber das Haus schien wie ausgestorben â bis auf Manubhai, einen der Hausangestellten.«
»Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass Durga weiÃ, wo ihre Schwester steckt. Warum fragen Sie sie nicht einfach?«
Genau das hatte Amarjit auch gesagt.
»Das habe ich bereits getan, aber es ist nichts aus ihr herauszubekommen. Sie haben viel bessere Möglichkeiten als ich, Sharda zu finden. Und falls Sie sie finden, dann lassen Sie es mich bitte sofort wissen.«
So beschlossen wir, Verschworene bei der Aufklärung dieses Rätsels zu werden.
Während die Stimmung im Zimmer immer besser wurde, gab es einen weiteren etwas ernüchternden Augenblick, als Gurmit mich nämlich fragte, ob ich nicht eine Unterredung zwischen ihm und Durga arrangieren könnte. Das erweckte meinen Argwohn, und ich fragte mich, ob er wirklich bereit war, mich
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