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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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Alles war darauf angelegt, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich hing da mittendrin und musste irgendwie sehen, dass ich klarkam.
    Ich war fest entschlossen, das Haus als Schwangere zu verlassen. Ein paarmal haben sie versucht, mich auszutricksen, damit ich wieder in ihre Klinik gehe, aber ich habe dann immer Kopfschmerzen vorgetäuscht und morgend liche Übelkeit. Zum Glück hat niemand Verdacht geschöpft. Ein e Woche nach meiner Flucht aus dem Haus bin ich wohlbehalten in Southall angekommen – und sie waren allesamt tot. Was soll ich dazu sagen? Es ist ein schrecklicher Zufall, aber so ist es nun mal. Ich kann nur wiederholen, was ich an dem Tag vor der Kamera gesagt habe. Dass es besser ist so.
    Ich muss jetzt los. Die Kleine weint. Drück Durga von mir.
    Binny
    An [email protected]
    Danke für die Mail. Es ist gut, zu wissen, was sich tatsächlich zugetragen hat. Nun verstehe ich auch, warum Durga so eine Wut auf ihre Eltern hat. Und warum du ihr so dankbar bist. Ich werde versuchen, mein Bestes zu tun, um sie da rauszuholen.
    Alles Liebe, Simi

10. KAPITEL
    21. September 2007
    Als ich von dem Kind erfuhr, dachte ich, ich würde vor Freude sterben. Wenigstens ein Kind war gerettet … obwohl das nicht genug war, längst nicht genug. Es brachte zu viele Erinnerungen mit sich, an das Geflüster der Bediensteten, an Dinge, die ich nie begriffen habe. Wie ich nach und nach hinter den grausamsten Teil der Geschichte meiner Familie gekommen bin, wie man meiner Urgroßmutter gesagt hat, sie müsse aus dem großen Haus ausziehen, wenn sie zum sechsten Mal hintereinander eine Tochter bekäme. Eine großartige, bis heute ungebrochene Tradition, dieses Aussortieren von Mädchen in den Kliniken meiner Familie, wo Untersuchungen durchgeführt werden und dann abgetrieben wird – sowohl für den Eigenbedarf als auch für andere Leute. In den Feldern um die Klinik herum werden sie dann ohne viel Tamtam vergraben. Ab und zu kommen beim Beackern des Landes winzige Skelette zum Vorschein, aber die Pächter meiner Familie sind treu ergebene Diener und würden nie jemandem etwas davon erzählen. Die Knochen werden dann stillschweigend zermahlen oder in den Fluss geworfen. Dankbare Pächterfamilien helfen nur zu willig dabei, etwas zu vertuschen.
    Einmal kam ich gerade aus der Schule, als Sharda mich hinters Haus rief. Mir fiel gleich der Schmutz unter ihren Fingernägeln auf. Hast du drüben auf den Feldern gearbeitet?, habe ich sie gefragt. Ja, sagte sie. Gelegentlich erlaubte man uns, bei der Aussaat und beim Pflügen der Felder zu helfen, wo Erdbeeren für den Export angebaut wurden. Manchmal ließ man mich sogar den Traktor fahren, und ich habe dann Zickzackrillen durch das Feld gezogen, bis Santji aus dem Haus kam und schimpfte. Aber er wurde noch wütender, als er mich mit meinem Turban und in meinen weißen Hosen erblickte. Dann schlug er mich ins Gesicht, weil ich »Lügen erzählt« hätte, und befahl mir, etwas anzuziehen, das für ein Mädchen schicklicher war.
    Jedenfalls zog Sharda vorsichtig einen Papierumschlag hervor, aus dem sie eine winzig kleine skelettierte Hand herausholte. Ich musste sie nehmen. Ich möchte, dass du weißt, was in diesem Haus passiert, Durga, hat sie zu mir gesagt. Diese Hand war tief in einem Gemüsefeld vergraben. Es waren auch ein kleiner Schädel und andere Gliedmaßen dabei, aber die hat alle der Traktor plattgefahren. Das ist das Einzige, was ich noch ausgraben konnte. Ich wäre auch da verbuddelt gewesen, wenn Jitu mich nicht gefunden hätte. Und du auch, weil du dich, genau wie ich, geweigert hast zu sterben. Wie konnten wir nur so dumm sein, Durga? Warum haben wir uns nicht anständig beerdigen lassen, als man es uns angeboten hat, anstatt nun Tag für Tag für Tag in dieser Hölle leben zu müssen? Sie drückte mich fest an sich, während ich immer noch die winzige Hand umklammert hielt, und wir mussten beide weinen. Irgendwas an diesen hilflos gespreizten kleinen Fingern schien mir etwas mitteilen zu wollen. Diese weißen Spinnenfinger waren wie kleine Stücke Kalk, aber sie schienen doch zu uns zu sprechen.
    Zunächst hatte ich eine Heidenangst vor dem Tod und vor bösen Geistern, aber dann begann ich, die kleine Hand, von der alles Fleisch abgefressen worden war, näher zu betrachten. Ob die Hand wohl einen Namen gehabt hat, habe ich Sharda gefragt.

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