Die Überlebenden der Kerry Dancer
kurz, Korporal Fraser hatte die Entfernung annähernd richtig geschätzt: das Schiff lag unmittelbar außerhalb der Drei-Faden-Grenze von Pagar-Spit vor Anker.
Die Kerry Dancer stach kurz vor halb drei Uhr morgens in See, das letzte Schiff, das aus dem Hafen von Singapur auslief, bevor die Stadt, am selben Tag, dem 15. Februar 1942, in die Hände der Japaner fiel. Der Wind hatte sich inzwischen gelegt, der Regen war zu einem sanften Nieseln abgeflaut, und über der verdunkelten Stadt, die rasch im Dämmer der Nacht verging, lag eine brütende Stille. Es brannte jetzt nirgends mehr, es war kein einziges Licht zu sehen, und selbst das gelegentliche Geknatter des Gewehrfeuers war gänzlich verstummt. Über allem lag eine unnatürliche, unbehagliche Stille, wie die Stille des Todes oder die Stille vor dem Sturm – und der Sturm würde losbrechen, sobald der erste Schein des Tages die Spitzen der Häuser von Singapur traf.
Farnholme war in dem tristen, dunstigen Achterdeck der Kerry Dancer damit beschäftigt, zwei der Krankenschwestern und Miss Plenderleith beim Verbinden und Versorgen der Verwundeten zu helfen, als es an der Tür klopfte – an der einzigen Tür, die vom Logis nach achtern führte. Er machte das Licht aus, ging hinaus und machte die Tür hinter sich sorgfältig wieder zu. Dann wandte er sich um und sah zu der Gestalt hin, die schattenhaft neben der Leiter stand.
»Leutnant Parker?«
»Ja.« Parker deutete in der Dunkelheit nach oben. »Vielleicht gehen wir besser aufs Oberdeck – dort können wir reden, ohne daß uns jemand hört.«
Gemeinsam stiegen sie die eiserne Leiter hinauf und gingen nach achtern an die Reling. Der Regen hatte inzwischen ganz aufgehört, und die See war ruhig. Farnholme beugte sich über die Reling, starrte nach unten auf die phosphoreszierenden Strudel in dem weißlich schäumenden Kielwasser der Kerry Dancer und wünschte, er könnte rauchen. Es war Parker, der das Schweigen brach.
»Ich habe Ihnen eine ziemlich sonderbare Neuigkeit mitzuteilen, Sir – Verzeihung, kein ›Sir‹. Hat der Korporal Ihnen davon erzählt?«
»Gar nichts hat er mir erzählt. Er ist erst vor ein paar Minuten ins Logis gekommen. Was ist?«
»Allem Anschein nach war dies hier nicht das einzige Schiff, das heute nacht auf der Reede von Singapur gelegen hat. Während wir das erstemal nach draußen fuhren, scheint ein anderes Motorboot hereingekommen zu sein, das nur einige hundert Meter von uns entfernt am Kai festmachte. Mit einer britischen Crew an Bord.«
»Hol mich der Henker!« Farnholme stieß in der Dunkelheit einen leisen Pfiff aus. »Was für Leute waren das? Und was zum Teufel hatten sie dort zu suchen? Wer hat sie denn überhaupt gesehen?«
»Korporal Fraser und einer meiner eigenen Leute. Sie hatten den Motor des Bootes gehört – den wir erklärlicherweise nicht hörten, da unser eigener Motor das Geräusch übertönte – und gingen hin, um mal nachzusehen. In dem Boot saßen nur zwei Mann, beide bewaffnet mit Gewehren. Der einzige, der etwas sagte, war ein Schotte – von den Westinseln, meint Fraser, und der muß es schließlich wissen. Ein ausgesprochen zugeknöpfter Bursche, nach Frasers Aussage, obwohl er selbst eine Menge Fragen stellte. Dann hörte Fraser das Beiboot der Kerry Dancer zurückkommen, und da mußten sie gehen. Er glaubt, einer der beiden sei hinter ihnen hergekommen, aber er ist nicht sicher.«
»›Sonderbar‹ ist kaum der richtige Ausdruck dafür, Leutnant.« Farnholme biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und starrte hinaus auf das Meer. »Und Fraser hat keine Ahnung, wo sie herkamen oder zu was einer Art von Schiff sie gehörten oder wo sie hinwollten?«
»Darüber weiß er nichts«, sagte Parker mit Entschiedenheit. »Nach allem, was Fraser weiß, könnten sie genausogut vom Mond gekommen sein.«
Sie besprachen den Fall noch einige Minuten, doch dann beendete Farnholme das Thema.
»Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu reden, Parker, also denken wir auch nicht mehr daran. Es ist geschehen und vorbei, niemand ist dabei zu Schaden gekommen – wir sind jedenfalls unbehelligt fortgekommen, und das ist schließlich die Hauptsache.« Entschlossen wechselte Farnholme das Gesprächsthema. »Sonst soweit alles klar?«
»Ja, mehr oder weniger. Siran wird keine Schwierigkeiten mehr machen, da habe ich gar keine Sorgen – es geht für ihn genauso um Kopf und Kragen wie für uns, und darüber ist er sich auch vollkommen klar. Es ist wenig
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