Die Überlebenden der Kerry Dancer
Gegend befinden, sind sehr gering«, fuhr Findhorn fort. »Sehen Sie sich das da draußen an. Unsere Chancen, irgend jemanden aufzufischen, sind noch geringer. Auch dazu brauchen Sie nur einen Blick nach draußen zu werfen. Wie Sie selbst sagen, ist da vorn nicht das geringste zu sehen. Und die Chancen, daß wir auf ein Riff auflaufen – oder auf eine Insel – sind ziemlich groß.« Er sah durch ein seitliches Fenster hinaus in den peitschenden Regen und auf das niedrige, jagende Gewölk. »Solange das so bleibt, besteht keine Hoffnung, daß die Sterne uns leuchten.«
»Unsere Chancen sind in der Tat sehr mäßig«, sagte Nicolson. Er brannte sich eine Zigarette an, steckte das abgebrannte Streichholz automatisch zurück in die Schachtel, sah dem blauen Rauch nach, der sacht nach oben stieg, und richtete den Blick dann wieder auf Findhorn. »Und was für Chancen geben Sie etwaigen Überlebenden der Kerry Dancer, Sir?«
Findhorn blickte in das eiskalte Blau der Augen seines Ersten Offiziers, blickte beiseite, sagte nichts.
»Falls sie in die Boote gegangen sind, bevor das Unwetter losbrach, dann sind sie jetzt auf einer Insel«, fuhr Nicolson mit ruhiger Stimme fort. »Es gibt Dutzende von Inseln hier in der Gegend. Sollten sie erst später in die Boote gegangen sein, dann sind sie längst gesunken – ein Dutzend dieser Landratten ist nicht imstande, ein Rettungsboot vorschriftsmäßig zu bemannen. Falls es überhaupt noch Überlebende gibt, die wir retten können, dann befinden sie sich noch an Bord der Kerry Dancer. Eine Stecknadel in einem Heuschober, ich weiß, immerhin eine größere Stecknadel als ein Floß oder eine Planke.«
Kapitän Findhorn räusperte sich. »Das alles ist mir durchaus klar, Mister Nicolson, aber –«
»Sie dürfte mehr oder weniger genau nach Süden treiben«, unterbrach ihn Nicolson. Er hob den Blick von der Seekarte auf dem Tisch. »Mit einer Geschwindigkeit von zwei, vielleicht drei Knoten – auf die Merodong-Straße zu –, und im Laufe der Nacht muß sie unweigerlich irgendwo auflaufen. Wir könnten ein klein wenig nach Backbord abfallen, dabei immer noch genügend Seeraum zwischen uns und der Insel Mesana lassen, und mal eben kurz nachsehen.«
»Sie machen da eine Rechnung mit mächtig viel Unbekannten«, sagte Findhorn langsam.
»Ich weiß. Ich gehe von der Annahme aus, daß die Kerry Dancer nicht schon vor Stunden gesunken ist.« Auf Nicolsons Gesicht erschien ein kurzes Lächeln, oder vielleicht war es auch nur eine Grimasse – es war jetzt sehr dunkel im Ruderhaus. »Vielleicht habe ich heute abend den sechsten Sinn, Sir. Vielleicht sind es meine skandinavischen Ahnen, die sich bei mir bemerkbar machen … In anderthalb Stunden müßten wir eigentlich an Ort und Stelle sein, spätestens in zwei Stunden, selbst bei dieser groben See, die wir gegen uns haben.«
»Also gut, hol Sie der Teufel!« sagte Findhorn gereizt. »Zwei Stunden, und dann kehren wir um.« Er sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. »Es ist jetzt genau sechs Uhr fünfundzwanzig – ich gebe Ihnen Zeit bis acht Uhr dreißig.« Er sprach kurz mit dem Rudergänger und ging dann hinter Nicolson her, der ihm, da das Schiff heftig schlingerte, die Tür offenhielt. Draußen erfaßte sie der heulende Sturm, der herangebraust kam wie eine Wand, und preßte sie endlose Sekunden lang gegen die achterliche Reling der Brücke, wehrlos und nach Luft schnappend. Der Regen war kein Regen mehr, sondern eine Sintflut, die waagerecht herantrieb, eiskalt und schneidend scharf, und das Geräusch des Windes in der Takelage war kein Wimmern mehr, sondern ein lautes Heulen in allen Tonlagen, das in den Ohren wehtat. Die Viroma war auf dem Weg in das Zentrum des Taifuns.
Viertes Kapitel
Z wei Stunden hatte ihm Kapitän Findhorn gegeben, allerhöchstens zwei Stunden; doch es hätten genausogut zwei Minuten sein können oder zwei Tage, so gering war die Hoffnung geworden. Das wußten alle, und alle waren sich darüber klar, daß es nichts weiter war als eine Geste, vielleicht zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens, vielleicht als Zeichen des Gedenkens an einige verwundete Soldaten, ein paar Krankenschwestern und einen Funker, der über seine Morsetaste gebeugt gestorben war. Jedenfalls aber eine Geste ohne jede Hoffnung …
Sie fanden die Kerry Dancer acht Uhr siebenundzwanzig, drei Minuten vor Ablauf der gesetzten Frist. Sie fanden sie, weil Nicolsons Schätzung unheimlich genau zutraf – die Kerry
Weitere Kostenlose Bücher