Die Überlebenden der Kerry Dancer
erhob sich mühsam auf Hände und Knie, griff nach der Klinke der Windschutztür und zog sich daran hoch – und ließ sich im nächsten Augenblick wie ein Stein zu Boden fallen, als dicht über seinem Kopf Granaten bösartig pfeifend durch die zerschmetterten Scheiben fuhren, gegen das Schott des Kartenraums schlugen, detonierten und das Ruderhaus mit ohrenbetäubendem Lärm und einem tödlichen Hagel gesplitterten Stahls erfüllten.
Mehrere Sekunden lang blieb Nicolson flach an Deck liegen, mit dem Gesicht nach unten, hielt sich die Ohren zu und verbarg den Kopf im Schutz seiner verschränkten Arme; er war halb betäubt und fluchte leise in sich hinein, daß er so übereilt und unüberlegt gehandelt hatte. Wie konnte er nur so dumm sein, sich auch nur einen Augenblick lang einzubilden, der japanische Angreifer könnte bis auf die letzte Maschine wieder nach Hause geflogen sein. Das war doch selbstverständlich, daß einige Maschinen dableiben würden, um jeden Überlebenden aufs Korn zu nehmen, der sich an Deck zeigte und sie um den Preis ihres Sieges zu bringen versuchte. Und diese Maschinen, die Jäger, würden so lange bleiben, bis der Sprit in ihren Langstreckentanks auf die Neige ging.
Nicolson richtete sich erneut auf, diesmal langsam und mit äußerster Vorsicht, und spähte über die Glassplitter am unteren Rand des zertrümmerten Fensters nach draußen. Im ersten Augenblick war er verdutzt und konnte sich über die Position des Schiffes nicht so recht klarwerden, bis er dann an dem dunklen Schatten, den der Fockmast auf das Deck warf, erkannte, was geschehen war: die Viroma, die rasch an Fahrt verlor und jetzt schon fast stillag, hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Und dann, fast gleichzeitig, sah Nicolson noch etwas anderes, und zwar etwas, wodurch die Position der Viroma völlig unwichtig wurde und was die Wachsamkeit der japanischen Maschinen, die am Himmel lauerten, sinnlos machte.
Es war von den Bombern keine Fehlkalkulation gewesen, sondern einfach Unwissenheit. Bei ihrem Angriff auf das Vorschiff, bei der Vernichtung der Geschützmannschaften dort, hatten sie panzerbrechende Granaten verwendet, die die stählernen Decksplatten durchschlugen, um Mitglieder der Besatzung zu vernichten, die etwa darunter Schutz suchen mochten. Was sie aber nicht wußten, war die Tatsache, daß der vordere Laderaum und das darunterliegende Zwischendeck nicht leer waren. Sie waren voll, bis auf die letzte Ecke gerammelt voll mit Fässern, in denen sich viele tausend Liter hochexplosiven Flugzeugbenzins befanden – ursprünglich bestimmt für die Maschinen, die jetzt als ausgebrannte Skelette den Flugplatz Selingar bedeckten.
Die Flammen erhoben sich mehr als fünfzig Meter hoch in die völlig unbewegte Luft, eine riesige Glutsäule, so weiß und so ohne jeden Rauch, daß sie in dem grellen Licht der Nachmittagssonne eben noch sichtbar war. Es waren eigentlich keine Flammen, sondern ein breiter, schimmernder Streifen auf höchste Temperaturen erhitzter Luft, der nach oben zu immer schmaler wurde, bis er hoch über dem Fockmast in einer flackernden, züngelnden Spitze endete und in einer Federwolke aus blaßblauem Rauch verging. Unten im Laderaum explodierten weitere Fässer, jetzt eins und jetzt wieder eins, und dann stieg für einen kurzen Augenblick in der fast unsichtbaren Flamme ein dichter Rauchschleier hoch, der ebenso rasch wieder verschwunden war. Und das war nur der Anfang, darüber war sich Nicolson klar. Wenn es erst einmal richtig brannte, wenn die Fässer anfingen, zu Dutzenden zu platzen, dann würde das Flugzeugbenzin vorn in Tank Nummer neun hochgehen wie ein explodierendes Munitionslager. Nicolson, der die Hitze des Brandes schon sengend auf seiner Stirn spürte, starrte sekundenlang auf das Vorschiff und versuchte, eine Schätzung darüber anzustellen, wieviel Zeit ihnen noch blieb. Doch das konnte man unmöglich genau sagen, nicht einmal ahnen. Vielleicht nur noch zwei Minuten, vielleicht auch zwanzig – nach zwei Jahren Krieg war die Zähigkeit der Tanker, die Hartnäckigkeit, mit der sie sich weigerten, zu sterben, geradezu legendär geworden –, doch bestimmt nicht mehr als zwanzig Minuten.
Nicolson wurde plötzlich auf etwas aufmerksam, was sich zwischen dem Gewirr von Rohrleitungen an Deck bewegte, direkt hinter dem Fockmast. Es war ein Mann, nur mit einer zerfetzten Hose aus blauem Leinen bekleidet, der immer wieder stolperte und
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