Die Ueberlebenden von Mogadischu
Hanns Martin Schleyer für die Staatsräson geopfert, sprich dem Schutz des Staates den Vorrang vor dem Schutz des Einzelnen gegeben zu haben, weil der Staat als ein Sinn um seiner selbst willen galt. Wolfgang Kraushaar schreibt in diesem Zusammenhang von Hanns Martin Schleyer als einem Opfer »auf dem Altar des Staates«.
44 Tage lang hatte die Bundesregierung die Strategie »Befreien statt nachgeben« verfolgt. Jetzt war Hanns Martin Schleyer tot und die Bonner Verantwortlichen erschüttert von den Folgen ihrer Entscheidung. Diese Folgen hatten sie rational einkalkuliert, und jetzt mussten sie emotional damit umgehen. Für die Einfühlung in die befreiten »Landshut«-Geiseln blieb in dieser Situation kein Raum.
Die Strategie der Verantwortlichen ist nur zu verstehen, wenn man bedenkt, wie die Generation dieser Politiker, die sogenannte »Kriegsgeneration«, mit Krisen und mit Leid umgeht. Helmut Schmidt, Hans-Jürgen Wischnewski und die anderen mussten als 20 -, 25 -Jährige »die Scheiße des Krieges« (Helmut Schmidt) erle 134 ben, wurden in jungen, prägenden Jahren mit Erfahrungen von Angst und Tod konfrontiert. Sie wissen, was es heißt, um das eigene Leben zu fürchten, und sie haben Kameraden sterben sehen.
Die Angehörigen der Kriegsgeneration sind noch einmal davongekommen. Um nicht am Schrecken des Erlebten kaputtzugehen, härtet sich das Denken vieler von ihnen aus. Der Wille, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zu überleben, bricht sich Bahn, doch er hat einen Preis: Männer wie Helmut Schmidt oder Hans-Jürgen Wischnewski schaffen für sich wichtige Kategorien des Denkens und Fühlens ab. »Angst ist ein schlechter Ratgeber«, wird zum Beispiel Helmut Schmidt sein politisches Leben lang predigen.
In hohen politischen Ämtern angekommen, reagiert diese Generation in Krisen preußisch streng und militärisch kühl. Die Terroristen, die Hanns Martin Schleyer entführt und später ein Zivilflugzeug entführt haben, sind für Bundesregierung und Krisenstäbe »der Gegner« – eine Sichtweise, die sie aus ihrer eigenen Kriegszeit übernommen haben und die sie jetzt ihre Handlungsoptionen rational abwägen lässt. Der Umstand, dass ihnen Hanns Martin Schleyer persönlich am Herzen liegt, darf keine Rolle spielen. Auch die Dauer der »Landshut«-Entführung, die Qual der Passagiere über Tage hin, soll sie vom eingeschlagenen Kurs nicht abbringen.
Diese Männer behalten die Nerven, weil sie als Kriegsgeneration in diesem Sinne geprägt sind. Ihre Sicht auf die Dinge drückt sich in der Sprache aus, die sie wählen. Der GSG - 9 -Einsatz in der »Landshut« ist die »Operation Feuerzauber«. »Das Flugzeug ist geknackt, die Arbeit ist erledigt«, teilt Hans-Jürgen Wischnewski hinterher dem Bundeskanzler mit, »drei tote Terroristen, ein GSG -Mann verletzt, keine weiteren Erkenntnisse, jetzt fahren die Kraftwagen.«
Dabei sind, wie Helmut Schmidt später einmal bekennt, die Minuten während der GSG - 9 -Aktion »wohl der dramatischste Augenblick meines Lebens seit dem Krieg« gewesen. Der damalige Finanzminister Hans Apel erinnert sich 2003 in der schon zi 135 tierten Fernsehdokumentation zum 85. Geburtstag von Helmut Schmidt: »Da habe ich ihn wirklich immer am Rande des psychischen Zusammenbruchs erlebt. Nicht wegen der Entscheidung selber, da war er absolut präzise – so präzise, dass es mich manchmal erschrocken hat.«
Beispiele für Schmidts Präzision werden im Jahr 2012 bekannt, als der Spiegel Auszüge aus den Telefongesprächen Schmidts mit Hans-Jürgen Wischnewski und einem deutschen Diplomaten während der »Landshut«-Entführung veröffentlicht. Aus ihnen geht hervor, dass Schmidt den Start der Maschine »unter Inkaufnahme von Menschenleben« (Originalton Schmidt) verhindern will. »Sagen Sie Herrn Wischnewski: mit allen Mitteln.«
Die Kehrseite dieser zielführenden Nüchternheit ist ein Mangel an Empathie. Diese Männer können nach gemeisterter Krise nicht »den Hebel umlegen« und in den 86 Menschen, die sie bisher als anonyme Masse, als Faustpfand des »Gegners«, wahrnahmen, wieder 86 Menschen aus Fleisch und Blut sehen. Sie erkennen darin nicht 86 Einzelschicksale, die jetzt ein Trauma verarbeiten müssen.
Die Politik hat, so sehen es die Männer der Kriegsgeneration, für die Geiseln getan, was sie tun konnte und tun musste: Sie hat ihnen das Leben gerettet. Für Männer, die für sich selbst keine Angst und noch weniger psychische Konflikte zulassen, ist das
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