Die Ueberlebenden von Mogadischu
auf die andere Sekunde umschlagen: Gerade wurde noch der Geburtstag einer Stewardess »gefeiert«, jetzt hat eine Geisel wieder einmal eine Pistole am Hals. »Er kriegte dann plötzlich so verrückte Zustände«, sagte eine Geisel in der Rückschau über Mahmud. »Das sprang, seine Mentalität konnte sich in Blitzesschnelle wandeln.«
In Phase fünf geht die bewusst verwirrende Situation in eine Phase der Klärung über: Die Geiseln werden auf ihr Ende vorbereitet. Alle Vorkehrungen für die Sprengung der Maschine werden getroffen. Die Geiseln nehmen Abschied vom Leben. Sie warten auf den Augenblick ihres Todes.
Joachim Schmitt beschreibt weiter, wie sich das Verhalten der Geiseln durch diese Phasen hindurch verändert. Am Anfang ist das Interesse an dem, was außerhalb der Maschine geschieht, noch groß, doch es schwindet zugunsten einer wachsenden Beschäftigung mit sich selbst: Wie geht es mir, was brauche ich, wie kann ich mir als Nächstes helfen? Weiter wird das Erleben der Frauen und Männer immer ähnlicher – wir sitzen hier in einer überhitzten, stinkenden Maschine und können nicht hinaus. Die gängige Reaktion darauf ist Apathie. »Der Zustand der Geiseln«, schreiben Andreas Ploeger und Joachim Schmitt in einem gemeinsamen Artikel, »trug Züge einer tiefen Demoralisierung. Eine Atmosphäre der Unwirklichkeit, Nichtfassbarkeit und Entrücktheit verbreitete sich in der Maschine.« An dieser Apathie ändert sich auch nichts, als die Entführer den Geiseln das definitive Ende verkünden. Die Geiseln reagieren auf diese Nachricht mit einer für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbaren Gefasstheit.
Die Vorhaltung, die zurückgekehrten Geiseln häufig gemacht 188 wurde, 20 starke Männer hätten doch vier Entführer überwältigen können, geht nach der Analyse von Joachim Schmitt fehl. Das Phasenmodell erklärt auch, weshalb es kurz vor der angekündigten Sprengung kein letztes Aufbäumen oder wenigstens ein Erbitten um Aufschub gegeben hat.
Auch Beate Hagenkötter hat bei Andreas Ploeger eine Doktorarbeit über die »Landshut«-Geiseln geschrieben. Darin geht sie der Frage nach, wie eine Geisel je nach Persönlichkeitstyp – Wesen, Vorerlebnissen, Charaktereigenschaften – in der Entführungssituation reagiert und welche Leiden sie nach ihrer Befreiung erlebt. Das eigene Erleben der Entführung bestimmt die Art und das Maß des Leidens nach der Befreiung wesentlich mit. Die zentrale Erfahrung während einer Entführung ist Hilflosigkeit – der Geisel wird schmerzhaft bewusst, dass sie an der Situation nichts ändern kann. Doch nicht jeder Mensch reagiert auf das Eingeständnis, hilflos zu sein, gleich. »Nicht die objektiven Bedingungen von Unkontrollierbarkeit sind die entscheidenden Determinanten der Hilflosigkeit«, schreibt Beate Hagenkötter, »sondern die subjektive Wahrnehmung, Einschätzung und Beurteilung, die in einer mehr oder weniger ausgeprägten Erwartung zukünftiger Unkontrollierbarkeit münden.«
Wie sehr die eigene Wahrnehmung das Verhalten in einer Situation beeinflusst, erläutert Beate Hagenkötter am Beispiel der Ermordung von Kapitän Schumann. Manche Geiseln reagieren darauf mit Entsetzen, andere mit Selbstkritik und Schuldgefühlen. Von diesen Schuldgefühlen (»Wir sind auf Kosten dieses Menschenlebens so glücklich davongekommen«) werden Letztere auch nach ihrer Befreiung verfolgt.
Ein anderes Beispiel stammt – nach dem Modell von Andreas Ploeger und Joachim Schmitt – aus der fünften Phase der Entführung. Kurz vor der angekündigten Sprengung stellen sich fast alle Geiseln auf ihren nahen Tod ein. Sie sind davon überzeugt, dass die Entführer ihre Drohung definitiv wahr machen. Wenige Geiseln zeigten jedoch andere Reaktionen und erklärten beispielsweise, 189 nie aufgegeben zu haben. »In einem solchen Fall erfolgt der Vergleich dieser besonderen Wahrnehmung mit der Verarbeitung anderer unkontrollierbarer Situationen der gleichen Geisel.« Wer schon in der Situation mental eigenständig blieb, kann die Situation auch später besser bewältigen.
Beate Hagenkötter hat mit einigen »Landshut«-Geiseln zehn Jahre nach dem Ereignis noch einmal gesprochen, um festzustellen, wie stark die Wahrnehmung der damaligen Situation für das spätere Erleben bestimmend blieb. Manche Geiseln äußern im Gespräch noch immer Schuldgefühle: »Wenn der (gemeint ist der Kapitän) nun noch am Leben wäre, ging es mir also irgendwie besser [. . . ], der hat’ s absolut
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