Die Übermacht - 9
obwohl der Seijin hier im Arbeitszimmer des Erzbischofs saß und ihn ruhig beobachtete, während Wylsynn doch genau gewusst hatte, dass er Tausende von Meilen entfernt war. Aber ohne seine Anwesenheit wäre es zu glauben wahrscheinlich gänzlich unmöglich gewesen.
Natürlich beweist die Tatsache, dass er jetzt hier ist, noch lange nicht, dass alles, was dir da gerade erzählt wurde, wirklich die Wahrheit ist, nicht wahr? , sagte sich Pater Paityr dank seiner Schueleriten-Ausbildung. Die Heilige Schrift lehrt doch, dass es Dämonen und dergleichen gibt – und wer außer einem Dämon hätte in der kurzen Zeit diese gewaltige Strecke zurücklegen können, die Merlin angeblich mit seinem ›Aufklärer-Schwebeboot‹ überwunden hat?
Doch noch während er sich das fragte, wusste er, dass er keinen Moment lang glauben konnte, Merlin sei ein Dämon. In vielerlei Hinsicht wünschte Paityr, er könnte es glauben. Dann wäre alles viel einfacher. Er müsste nicht für Wahrheit halten, dass sein bisheriger tief empfundener, beständiger Glaube auf einer ungeheuerlichen Lüge basierte. Der Priester in ihm und der junge Seminarist, der er gewesen war, bevor er die Profess abgelegt hatte, schrie in seinem Herzen, seiner Seele, er solle sich abwenden. Er müsse die Lügen zurückzuweisen, die Shan-weis dämonischer Handlanger hier vorbrachte, bevor die Lügen seine Seele endgültig verderben würden! Nein, die Verdorbenheit seiner Seele musste schon lange vor diesem Augenblick begonnen haben, wenn er auch nur für einen einzigen Augenblick den Gedanken akzeptieren konnte, Merlin sei eben kein Dämon!
Und doch konnte Paityr das soeben Gehörte nicht als Lüge zurückweisen. Da lag das Problem. Er konnte es einfach nicht.
Und das nicht nur wegen all der Beispiele für ›Technologie‹, die Merlin mir gerade gezeigt hat , dachte er völlig sachlich. All die Zweifel über die Jahre hinweg, all diese Fragen, wie Gott es zulassen konnte, dass jemand wie Clyntahn derart viel Macht erringt! Diese Zweifel sind der Grund, weswegen du jedes einzelne Wort von dem glaubst, was dir diese Leute gerade erklärt haben. Nur: Was sie dir eröffnet haben, beantwortet die Fragen nicht! Es sei denn, die Antwort ist schlichtweg so offensichtlich, dass du dich scheust, die Hand danach auszustrecken und sie zu berühren. Wenn dein Glaube wirklich eine einzige Lüge ist, wenn es wirklich keine Erzengel gibt und auch niemals gegeben hat, ist es dann nicht auch so, dass Gott nur eine Lüge ist? Das würde erklären, wie Er zulassen konnte, dass Clyntahn in Seinem Namen mordet und foltert, oder etwa nicht? Weil Er dergleichen niemals getan hätte ... weil es Ihn ja nie gegeben hat!
»Es tut mir leid, Pater«, sagte Merlin leise. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen das alles aufbürden. Für mich ist das etwas anderes. Zu den Dingen, die ich hier auf Safehold gelernt habe, gehört auch, dass ich niemals zur Gänze werde erfassen können, welchen Schock es jedem Einzelnen versetzen muss, die Wahrheit zu hören – weil Ihnen all die absolute, wohl dokumentierte Gewissheit so unvermittelt fortgerissen wird.«
»Das ist ... tatsächlich eine ziemlich treffende Beschreibung, Seijin Merlin. Oder sollte ich Euch lieber Nimue Alban nennen?«
»Darüber streiten der Erzbischof und ich uns ständig«, erwiderte Merlin mit einem sonderbaren, beinahe schon launigen Lächeln. »Um ganz ehrlich zu sein, Pater, ich habe mich immer noch nicht entschieden, was ich denn nun eigentlich wirklich bin. Andererseits bin ich auch zu dem Schluss gekommen, dass ich gar keine andere Wahl habe, als mit der Annahme weiterzuexistieren, ich sei Nimue Alban – oder sie sei zumindest ein Teil meiner selbst. Denn von der Mission, die zu übernehmen sie zugestimmt hat, hängt es ab, ob die menschliche Spezies überlebt oder untergeht.«
»Wegen dieser ... Gbaba?« Vorsichtig versuchte sich Wylsynn an dem unvertrauten Wort.
»Das ist gewiss der größte, dringlichste Teil des Ganzen, ja«, sagte Merlin. »Früher oder später wird die Menschheit ihnen erneut begegnen. Wenn das geschähe, ohne dass wir wissen, was auf uns zukommt, ist es höchst unwahrscheinlich, dass uns das Glück beschieden ist, ein zweites Mal zu überleben. Aber dahinter steckt noch mehr. Die Gesellschaft hier auf Safehold kann man bestenfalls als Zwangsjacke beschreiben. Wenn man ehrlicher – und boshafter – ist, könnte man auch sagen, wir reden hier von der schlimmsten intellektuellen und spirituellen
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