Die Übermacht - 9
habe, war, dass die beiden Gelegenheit haben sollten, Sie kennen zu lernen. Sie richtig kennen zu lernen, meine ich damit. Sie sollten Sie, Paityr, beurteilen und einschätzen können ... auch hinsichtlich Ihrer Reaktion auf das, was Sie erfahren werden.«
Beinahe reglos saß Wylsynn in seinem Sessel, den Blick fest auf das Gesicht des Erzbischofs gerichtet. Er war so angespannt, dass er das Gefühl hatte, stiege die Anspannung noch, zerrisse sie ihm das Herz. Seine rechte Hand verkrampfte sich um das Szepter vor seiner Brust.
»Der Grund für dieses Treffen ist, dass die Bruderschaft zu dem Schluss gekommen ist, es sei das Beste, dieses Wissen mit Ihnen zu teilen. Es ist vielleicht nicht das Sicherste, derart vorzugehen, und auch nicht notwendigerweise das Weiseste, aber eben das Beste. Die Bruderschaft ist der Ansicht – und für mich gilt das Gleiche –, dass Sie dieses Wissen schlichtweg verdient haben. Aber dieses Wissen ist ein zweischneidiges Schwert. Das, was wir Ihnen erzählen wollen, birgt Gefahren, mein Sohn, und nicht nur spiritueller Natur. Es birgt Gefahren für uns, für Sie und für all die unzähligen Millionen von Gottes Kindern, die auf dieser Welt leben oder jemals darauf leben werden. Und ich fürchte, dieses Wissen wird Ihnen großen Schmerz zufügen. Aber zugleich glaube ich auch, dass es Ihnen letztendlich noch größere Freude spenden wird. Wie dem auch sei, ich würde Sie niemals mit diesem Wissen belasten, wäre ich nicht zutiefst davon überzeugt, einer der Gründe, weswegen Gott Sie überhaupt erst nach Charis geschickt hat, ist der, Sie einzuweihen.«
Er hielt inne, und Wylsynn atmete ein wenig zittrig durch. Er blickte die anderen Anwesenden an, erkannte in allen Mienen, wie feierlich dieser Augenblick war. Ein Teil von Pater Paityr Wylsynn wollte den Erzbischof bitten, nicht weiterzusprechen. Die völlige Stille im Raum hatte etwas Erschreckendes, und Gleiches galt für die Mienen der Anwesenden. In diesem Moment begriff Paityr, dass er Staynair glaubte, jedes Wort sogar. Die Erkenntnis war erschreckend, aber jenseits der Furcht fand sich etwas anderes. Vertrauen.
»Falls es Euer Ziel war, mich wissen zu lassen, wie ernst das ist, was Ihr mir sagen wollt, Eure Eminenz, ist Euch das gelungen«, sagte er nach kurzem Schweigen. Er war selbst überrascht, dass seine Stimme nicht zitterte.
»Gut«, ergriff nun Cayleb wieder das Wort, und Wylsynn richtete den Blick wieder auf den Kaiser. »Aber bevor wir uns in dieses Thema vertiefen: Es gibt noch jemanden, der an diesem Gespräch teilnehmen sollte.«
Erstaunt wölbte Wylsynn die Augenbrauen. Doch bevor sein Verstand die Frage auch nur in Worte fassen konnte, öffnete sich die Tür zwischen Staynairs geräumigem Arbeitszimmer und Ushyrs deutlich kleinerem Vorzimmer, und ein hochgewachsener Mann mit blauen Augen trat ein, gekleidet in den Brustharnisch und das Kettenhemd der Charisian Imperial Guard.
Voller Entsetzen und Unglauben riss der Intendant die Augen auf. Jeder in ganz Tellesberg wusste, dass Merlin Athrawes nach Zebediah und Corisande geschickt worden war, um Kaiserin Sharleyan und Kronprinzessin Alahnah zu beschützen. Im Augenblick musste Captain Athrawes beinahe siebentausend Meilen weit vom Palast in Tellesberg entfernt sein – Luftlinie! Er konnte unmöglich hier sein!
Trotzdem war er es.
»Guten Abend, Pater Paityr«, sagte Merlin mit seiner tiefen Stimme und strich sich mit einer Hand über seinen auffälligen Schnurrbart. »Wie ich Ihnen einmal in König Haarahlds Gegenwart gesagt habe: Ich glaube an Gott, ich glaube, dass Gott einen Plan für alle Menschen hat, und ich glaube, dass es die Pflicht eines jeden Mannes und einer jeden Frau ist, sich stets im Dienste des Lichtes der Finsternis entgegenzustellen. Das war die Wahrheit, wie Sie damals selbst bestätigt haben. Aber leider konnte ich Ihnen damals nicht die ganze Wahrheit sagen. Heute hingegen kann ich es.«
Paityr Wylsynns Gesicht war aschfahl, seiner sonnengebräunten Haut zum Trotz.
Während Merlin, Cayleb und Staynair sich dabei abwechselten, den Inhalt des Tagebuchs von Sankt Zherneau zu erläutern, war die Abenddämmerung hereingebrochen. Was Paityr Wylsynn hier zu hören bekommen hatte, erschütterte in rascher Folge immer und immer wieder sein Weltbild. Jetzt wusste er, warum Merlin anwesend war. Es war schon schwer genug, die Wahrheit zu glauben – allein schon zu akzeptieren, es könnte überhaupt die Wahrheit sein. Es war schwer zu glauben,
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