Die Übermacht - 9
nicht, dass irgendetwas von ihren Taten Gott vorzuwerfen ist. Wir sollten nicht vergessen, dass sie dieses gewaltige Lügengebäude nicht aus dem Nichts erschaffen haben, sondern aus einzelnen Bruchstücken, die sie den Schriften und dem Glauben – dem Gottvertrauen – Tausender von Generationen entnommen haben, die einen Weg zu Gott suchten, ohne die lückenlosen, widerspruchslosen – und erlogenen – Schriften und die entsprechende Geschichtsschreibung, die wir auf Safehold besitzen. Und so komme ich zu meiner letzten rhetorischen Frage: Glaube ich, nur weil Männer und Frauen, die aus Entsetzen und Verzweiflung keinerlei Skrupel mehr kannten, die Religion und Gott missbraucht haben, Gott würde nicht existieren? Millionenfach nein, mein Sohn!
Ich kann Ihnen das nicht mehr beweisen, indem ich Ihnen das unanfechtbare, unverletzliche Wort der unsterblichen Erzengel vorlege. Ich kann Sie nur bitten, erneut tief in sich zu schauen, nach der Quelle des Glaubens und des Vertrauens zu suchen und sich all die Wunder des Universums anzusehen – und all die noch viel größeren Wunder, die Ihnen schon bald offen stehen. Dann, erst dann sollten Sie für sich selbst entscheiden! Merlin und ich haben über genau dieses Thema gesprochen, als er und ich seinerzeit gemeinsam Cayleb die Wahrheit erzählten. Damals wusste ich noch nicht, dass ich in die Fußstapfen eines uralten Philosophen getreten bin, als ich gefragt habe, was ich denn zu verlieren hätte, wenn ich an Gott glaubte. Aber jetzt stelle ich Ihnen die gleiche Frage, Paityr: Was haben Sie zu verlieren, indem Sie an einen liebenden, mitfühlenden Gott glauben, der endlich einen Weg gefunden hat, nach Seinen Kinder erneut die Hand auszustrecken? Würde Sie das zu einem schlechten Menschen machen? Würde es Sie zu den gleichen Handlungen verführen, in die sich einst der real existierende Langhorne und die real existierende Bédard verstrickt haben? Oder werden Sie weiterhin voller Liebe die Hand nach all Ihren Mitmenschen ausstrecken? Gutes tun, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet? Am Ende Ihres Lebens wissen, dass Sie sich wirklich bemüht haben, die Welt und alles, was sich darin befindet, zu einem besseren Ort zu machen, als sie es sonst gewesen wäre?
Und wenn es keinen Gott gibt, wenn nach dem Leben nur noch ein traumloser, ewiger Schlaf kommt – oder das Nichts –, was hat Ihr Glaube Sie dann gekostet?« Unvermittelt lächelte der Erzbischof. »Rechnen Sie damit, sich betrogen zu fühlen, wenn Sie erfahren, dass doch kein Gott jenseits dieser letzten Schwelle auf Sie wartet? Nur zwei Dinge können auf der anderen Seite des Todes liegen, Paityr. Das ist das, was Merlin und Owl als binäre Lösungsmenge bezeichnen. Entweder erwartet uns gar nichts, oder wir existieren weiter, ob wir dann das erreichen, was wir im Augenblick Gott nennen oder nicht. Und wenn das Nichts auf uns wartet, dann ist es bedeutungslos, ob Sie sich dann betrogen fühlen würden. Aber wenn uns dort eine fortgesetzte Existenz erwartet, in der es nicht den gibt, den ich Gott nenne, werde ich wohl erneut damit anfangen müssen, die Wahrheit zu suchen, nicht wahr?«
Mehrere Sekunden lang blickte Paityr den Erzbischof nur schweigend an, dann atmete er tief durch.
»Ich weiß nicht, was ich in diesem Augenblick glauben kann oder möchte, Eure Eminenz«, sagte er schließlich. »Ich hätte mir nie vorgestellt, einen solchen inneren Aufruhr zu erleben wie den, der im Moment in mir tobt. Vom Verstand her habe ich Euch geglaubt, als Ihr gesagt habt, Ihr hättet genau das Gleiche durchlebt. Und ich sehe wohl auch, dass Ihr wirklich einen Weg gefunden habt, Euren Glauben aus dieser Erfahrung zu retten. Darum beneide ich Euch ... glaube ich. Dass ich nicht weiß, ob ich Euch nun um Eure Gewissheit beneide oder sie Euch verüble, weil sie eine weitere Manifestation der Lüge ist, fasst eigentlich den Kern meiner Verwirrung recht gut zusammen. Ich werde Zeit brauchen, und zwar reichlich, bevor ich mein eigenes spirituelles Haus erneut bestellen kann, und sagen: ›Ja, hier stehe ich.‹«
»Natürlich«, gab Staynair gelassen zurück. »Sie denken doch wohl nicht, dass andere das einfach so hingenommen und dann weitergemacht haben, als sei nichts gewesen!«
»Im Augenblick weiß ich wirklich nicht, was ich denken soll, Eure Eminenz!« Wylsynn war selbst erstaunt, wie belustigt seine Entgegnung klang.
»Dann stehen Sie jetzt genau dort, wo jeder andere auch steht, Pater«, ergriff Merlin wieder
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