Die Übermacht - 9
was in meiner Familie schon immer ›die Vision des Erzengels Schueler‹ genannt wurde, soweit wir uns zurückerinnern können, hat uns eine Pflicht auferlegt. Wir sollen dafür sorgen, dass Mutter Kirche unbefleckt bleibt, ohne jeden Makel und stets auf ihre große Aufgabe in der Welt bedacht. Aber darüber hinaus wurde uns auch noch eine besondere Verantwortung aufgetragen. Ein Schlüssel innerhalb des Schlüssels, sozusagen.«
»Wie bitte?«, fragte Merlin nach.
»Unter dem Tempel gibt es eine Kammer«, erklärte Wylsynn ihm. »Ich war noch nie dort, aber ich habe sie in der Vision gesehen. Ich weiß, wie man dorthin gelangt, ja, ich sehe es selbst jetzt deutlich vor meinem geistigen Auge. Und in dieser Kammer gibt es einen Altar, in dessen Oberfläche Gottes Lichter eingelassen sind. Zudem gibt es dort zwei Handabdrücke, eine linke und eine recht Hand, zu beiden Seiten eines kleinen, runden Alkovens. Laut der Vision kann jemand, der wahrhaftig und hingebungsvoll Gott und Seinem Plan dient, den Schlüssel in diesen Alkoven stellen und seine Hände in diese Abdrücke legen. Wenn er dann Schuelers Namen ruft, dann wird die Macht Gottes erwachen, um Mutter Kirche in der Stunde der Not beizustehen.«
Merlin hatte das Gefühl, das Herz, das er nicht mehr hatte, bliebe abrupt stehen.
»Laut dieser Vision kann man das nur ein einziges Mal tun, und nur in der Stunde allergrößter Not für Mutter Kirche«, fuhr Wylsynn fort. »So wie ich Vater und Onkel Hauwerd kenne, war es gänzlich unmöglich, dass sie die Reformistenbewegung als eine ernstliche Bedrohung für Mutter Kirche angesehen haben. Die Kirche von Charis hat keinerlei Forderungen vorgebracht, die in irgendeiner Weise im Widerspruch zur Heiligen Schrift stünden. Das muss den beiden ebenso deutlich bewusst gewesen sein wie mir. Zweifellos hat die Kirchenspaltung sie zutiefst bestürzt. Sie hat ja auch gewaltige Auswirkungen auf Gottes Plan für die ganze Menschheit. Aber der Tempel hätte durch einen echten physischen Angriff bedroht sein müssen, bevor einer der beiden der Ansicht gewesen wäre, es sei der Zeitpunkt gekommen, Gottes Macht zur Verteidigung der Kirche zu wecken. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass beide mit den Reformisten einer Meinung waren, was die Vorwürfe dem Vikariat gegenüber betrifft. Sie dürften auch davon überzeugt gewesen sein, die Reformisten seien echte Kinder Gottes, mehr als die ›Vierer-Gruppe‹ das jemals sein könnte. Ich weiß nicht, wohin das letztendlich geführt hätte. Aber es ist völlig unmöglich, dass sie versucht hätten, von Gott zu erflehen, dass er Männer und Frauen erschlägt, von denen sie glaubten, sie würden lediglich versuchen, das Leben und den Glauben zu leben, den Gott von Anfang an für sie vorgesehen hat.«
Alle blickten zu Merlin, und Cayleb räusperte sich.
»Ist dieser Altar das, was ich befürchte?«, fragte er besorgt.
»Ich weiß es nicht ... aber es ist sehr gut möglich«, antwortete Merlin sichtlich unglücklich. »Ich weiß nicht, was geschehen würde, wenn jemand Schuelers Anweisungen folgt. Möglicherweise entlockt das einfach nur den kinetischen Plattformen eine Reaktion. Andererseits gehört zu den Dingen, die mir schon seit geraumer Zeit Sorgen bereiten, dass Langhorne – oder wer auch immer den Tempel nach Langhornes Tod errichten ließ – eine KI in den Großen Plan eingebunden haben könnte. So etwas ähnliches wie Owl, nur leistungsstärker. Bloß war ich zu dem Schluss gekommen, das könne gar nicht sein. Denn wenn eine KI tatsächlich überwachen würde, was das Vikariat so treibt, hätte sie wahrscheinlich im Verlauf der letzten zwei oder drei Jahrhunderte eingegriffen. Aber wenn sich dort unten etwas befindet, das die ganze Zeit über im Standby-Modus läuft und nur darauf wartet, durch den Befehl eines Menschen aktiviert zu werden ...«
Seine Stimme verlor sich, und Cayleb, Staynair und Waignair blickten einander angespannt an.
»Ich verstehe zu wenig von dieser Technologie, die Ihr beschrieben habt, um auch nur zu raten, ob dabei eine ... KI einen Rolle spielt oder nicht«, sagte Wylsynn. »Ich weiß nur eines: Wenn die Vision wirklich die Wahrheit sagt und das Ritual in der richtigen Art und Weise vollzogen wird, dann wird etwas geschehen.«
»Aber niemand außerhalb Ihrer Familie weiß etwas über das Ritual?«, fragte Cayleb nach, und Wylsynn zuckte die Achseln.
»Nicht, soweit ich das weiß, Euer Majestät. Aufgrund der Dinge, die uns die Vision
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