Die Übermacht - 9
geschieht. Die Tiefe und die Stärke des Gottvertrauens, die ich bei Ihnen gesehen habe, sind entschieden zu groß, als dass ich erleben möchte, wie sie fortgeworfen werden, aus welchem Grund auch immer. Aber es wäre mir lieber, mitanzusehen, wie sie fortgeworfen werden, als dass Sie sich selbst dazu zwingen , ein Leben zu führen, das für Sie selbst einfach kein Leben mehr ist. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will?«
Wieder blickte Wylsynn den Erzbischof mehrere Sekunden lang schweigend an, dann nickte er langsam.
»Ich denke schon, Eure Eminenz«, sagte er gedehnt. »Aber noch weiß ich nicht, was geschehen wird. Ihr habt Recht: Ich weiß jetzt, dass der Glaube, der mich so weit getragen hat, nichts als der Schatten einer mich persönlich treffenden Lüge war. Doch das gilt wohl für uns alle, nicht wahr? ›Meine‹ Lüge mag vielleicht noch ein wenig spektakulärer ausgefallen sein als die der meisten anderen. Aber wir alle wurden belogen. Also läuft es letztendlich darauf hinaus, dass ich für mich selbst herausfinden muss, was wirklich von Bedeutung ist: die Art und Weise, wie diese Lüge uns aufgetischt wurde, oder die Lüge selbst ... und ob eine Lüge immer noch auch einen winzigen Funken Wahrheit bergen kann.«
»Wenn es für Sie tröstlich ist, mein Sohn«, sagte Staynair und verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen, »die Heilige Schrift war nicht das erste heilige Buch, das gelehrt hat, der Glaube gehe auf wie ein Senfkorn. Gottes Werk beginnt mit einem winzigen Anfang und erreicht Gewaltiges.«
»Ich hoffe, Ihr habt Recht, Eure Eminenz. Es wird wohl leider noch eine Weile dauern, bis ich mich entscheiden kann, ob ich überhaupt möchte, dass mein Glaube überlebt.«
»Natürlich«, entgegnete Staynair.
Wylsynn nickte, dann wandte er sich wieder Merlin zu.
»Nun, Merlin, Eure Beschreibung, wie der Schlüssel funktioniert, trifft genau zu. Als Vater ihn mir gezeigt hat, hat der Schlüssel Bilder projiziert, Visionen – Hologramme – des Erzengels Schueler persönlich. Und Schueler hat uns gelehrt, worin die Verantwortung unserer Familie liegt.« Nachdenklich legte er die Stirn in Falten. »Manchmal denke ich, dass das einer der Gründe war, weswegen meine Familie die Aufgaben der Inquisition immer sehr viel ... sanfter angegangen ist. Der Schueler, den ich dank des Schlüssels mit eigenen Augen gesehen habe, ist nicht der schreckliche, grimmige Schueler, der die peinliche Befragung und die Strafen Schuelers vorgeschrieben hat. Er ist streng, gewiss. Aber er zeigt nicht das Verhalten eines Wesens, das eine derart grausame, entsetzliche Bestrafung für ein Kind Gottes verlangt, das doch nur geirrt hat.«
»Ich habe den wahren Schueler nie kennen gelernt«, erwiderte Merlin. »Vielleicht ist Nimue ihm einmal begegnet, aber wenn das wirklich so war, dann war das, nachdem sie mich ... aufgezeichnet hat.« Er lächelte traurig. »Deswegen hatte ich nie einen Grund daran zu zweifeln, dass der ›Erzengel‹ Schueler Das Buch Schueler verfasst hat. Aber wenn man es genau nimmt, haben wir überhaupt keine Belege dafür, wer überhaupt welches Buch der Heiligen Schrift geschrieben hat. Außerdem war Das Buch Schueler nicht Teil der ursprünglichen, ersten Fassung der Heiligen Schrift , die Commodore Pei in Nimues Höhle hinterlegt hat. Das ganze Werk wurde ausgiebig überarbeitet, nachdem Langhorne die Alexandria-Enklave zerstört hat – das ließ sich vermutlich gar nicht vermeiden. Und dann wurden Das Buch Schueler und Das Buch Chihiro dem ursprünglichen Werk hinzugefügt. Ich weiß ja nicht, ob Sie das als tröstlich empfinden, Pater, aber es ist durchaus möglich, dass der echte Schueler nie das Buch verfasst hat, das man ihm zuschreibt. Und wenn nicht, dann ist er auch nicht derjenige, der die peinliche Befragung und die Strafen Schuelers ersonnen hat.«
»Das würde ich sehr gern glauben«, meinte Wylsynn nach kurzem Nachdenken leise. »Ich würde sehr gerne glauben, dass nicht alles, was ich für die Wahrheit gehalten habe, eine Lüge war. Wenn es wirklich stimmt, dass meine Familie vom echten Schueler abstammt, würde es mir das Herz erleichtern, zu wissen, dass mein Vorfahr nicht derart entsetzliche Strafen ersonnen hat, zur Verteidigung und zum Schutz einer ›Religion‹, von der er genau wusste, dass sie von vorn bis hinten erlogen ist.«
Wieder schwieg er einen Moment. Wieder schüttelte er den Kopf.
»Aber wie dem auch sei«, fuhr er dann deutlich forscher fort, »das,
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