Die Übermacht - 9
wieder aufbrechen müsst, Merlin. Also sollte ich jetzt wohl lieber fortfahren.«
Noch einmal holte er tief Luft, nahm sich sichtlich zusammen, lehnte sich dann in seinem Sessel zurück und faltete die Hände im Schoß.
»Als ich noch ein kleiner Junge war, haben mir mein Vater und Onkel Hauwerd alles über die Geschichte unserer Familie und die Rolle erzählt, die uns im Vikariat und in der Geschichte von Mutter Kirche zukommt. Zumindest dachte ich damals, sie hätten mir wirklich alles erzählt. Es reichte auf jeden Fall aus, um zu begreifen, dass wir eine besondere, freudige Pflicht zu erfüllen hätten. Es hat mir auch dabei geholfen zu verstehen, warum meine Familie sich so sehr für Reformen eingesetzt und sich immer eng an die Wahrheit gehalten hat, über all die Jahrhunderte hinweg. Warum wir uns so viele Feinde gemacht haben, als die Korruption das Vikariat weiter und weiter durchdrang. Die Stimme des Gewissens erzählt nur selten Dinge, die man gern hört. Das gilt ganz besonders für all jene, die tief in ihrem Herzen wissen, wie sehr sie ihre Pflichten und ihre Verantwortung missachtet haben. Das lehrt jeder einzelne Orden auf ganz Safehold, und das reichte aus – so dachte ich damals –, um alles zu erklären.
Aber erst als ich das Priesterseminar abgeschlossen und die Priesterweihe empfangen hatte, hat mir Vater die ganze Wahrheit über unsere Familien und unsere Tradition erzählt. Damals hat er mir den Stein von Schueler und den Schlüssel gezeigt.«
Er schwieg einen Moment, sammelte sich. Merlins Augenbrauen schossen in die Höhe. Rasch blickte er die anderen an und sah in ihren Mienen das gleiche fragende Erstaunen.
»Den Schlüssel, Pater?«, forderte Merlin ihn zum Weitersprechen auf.
»Laut der geheimen Chronik, die mir Vater gezeigt hat, hat uns der Erzengel Schueler persönlich den Schlüssel und den Stein hinterlassen. Den Stein kennen Sie ja alle schon. Der Schlüssel muss ein weiteres Beispiel für diese Technologie sein, die Ihr mir gezeigt habt, Seijin Merlin, auch wenn er auf den ersten Blick deutlich weniger spektakulär ist als der Stein. Es ist eine kleine Kugel, auf der einen Seite ein wenig abgeflacht, ungefähr so groß«, er hielt Daumen und Zeigefinger vielleicht zwei Zoll weit auseinander, »und er sieht aus, als bestünde er aus schlichtem, poliertem Stahl.« Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Er ist so unscheinbar, dass Generationen von Wylsynns ihn in aller Offenheit versteckt haben, in dem sie ihn einfach herumliegen ließen – als Briefbeschwerer.«
Tatsächlich schwang ein Hauch aufrichtiger Belustigung in seiner Stimme mit, und auch Merlin lächelte nun. Doch dann fuhr Wylsynn fort.
»Allein ist der Schlüssel wirklich nichts anderes als ein Briefbeschwerer«, sagte er ernsthaft. »Aber zusammen mit dem Stein wird er zu etwas völlig anderem. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben ... am ehesten könnte man wohl sagen, dass er zu einer Art Quelle von Visionen wird.«
Merlin richtete sich in seinem Sessel auf, und seine Miene war mit einem Mal sehr angespannt.
»Pater, ich hatte nie die Gelegenheit, den Stein richtig zu untersuchen. Ich war einfach davon ausgegangen, dass er nur einen kleinen Teil Ihres Szepters ausfüllt. Aber das stimmt gar nicht, oder?«
»Nein, das stimmt nicht«, bestätigte Wylsynn. »Er füllt fast die gesamte Länge aus und lässt sich herausnehmen. Wenn das geschieht, verbindet er sich mit dem Schlüssel. Das untere Ende haftet dann untrennbar an der flachen Seite des Schlüssels. Auseinandernehmen kann man das dann nur noch, wenn man den richtigen Befehl kennt.« Konzentriert blickte er Merlin an. »Darf ich annehmen, Ihr wisst, wie das funktioniert – und warum?«
»Ich müsste mir beide genau anschauen, um mir sicher sein zu können«, erwiderte Merlin. »Aber wahrscheinlich gehört zu den Anweisungen, die man Ihrer Familie gegeben hat, auch ein Ritual, den Stein regelmäßig direktem Sonnenlicht auszusetzen, richtig?« Wylsynn nickte, und Merlin zuckte mit den Schultern. »Damit, Pater, haben Sie den Stein aufgeladen – Sie haben ihm Kraft gegeben. Bald werden Sie genau verstehen, was ich damit meine. Im Augenblick sollten Sie nur bitte akzeptieren, dass daran nichts Dämonisches oder Göttliches ist. Das ist lediglich ein gewöhnlicher physikalischer Prozess.
Nun, was Sie den Schlüssel nennen, ist ein Speichermodul, ein robustes Stück Molekularschaltungen. Selbst aus einer Kanone abgefeuert nähme es keinen
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