Die Übermacht - 9
»Aber zugleich würde ich diese Gelegenheit auch dazu nutzen wollen, mich persönlich mit dem Tagebuch des Heiligen Zherneau zu befassen. Ich würde auch gern mit Pater Zhon und dem Rest der Bruderschaft sprechen, die schon viel länger als ich vor genau dem gleichen Problem stehen. Auf diese Weise befinde ich mich nicht mehr im Lichte der Öffentlichkeit, während ich noch versuche, mit diesem neuen Wissen zurechtzukommen. Und das erspart Euch zugleich auch die Notwendigkeit, mich wieder in die bequeme Arrestzelle zu schicken, die ich genießen durfte, nachdem Erzbischof Erayk zum Tempel aufgebrochen war.«
»Es war nie meine Absicht, Sie einzuschließen, während Sie darüber nachdenken, was das alle bedeutet«, gab Staynair zurück.
»Bei allem schuldigen Respekt, Eure Eminenz, das sollte es aber sein!«, erwiderte Wylsynn unverblümt. »Ihr seid schon genug Risiken eingegangen, indem Ihr einen überzeugten, tief im Glauben verwurzelten Schueleriten so nah an Euch selbst herangelassen habt – und an die Schalthebel Eurer Macht hier im Kaiserreich. Solange Ihr nicht wisst – solange wir alle nicht wissen, mich selbst eingeschlossen –, welchen Weg dieser desillusionierte Schuelerit nun einschlagen wird, könnt Ihr es Euch wirklich nicht leisten, weitere Risiken einzugehen! Der Schaden, den ich Euch und Euren Zielen zufügen könnte, allein schon durch einige unbedachte Worte, lässt sich doch noch nicht einmal abschätzen! Ganz zu schweigen davon, was passieren könnte, wenn ich in meinem Zorn einfach um mich schlage – und ich bin zornig, Eure Eminenz, daran solltet Ihr nicht zweifeln! Natürlich birgt das für Euch ein gewaltiges Risiko!«
»Damit hat er wohl leider Recht, Maikel«, sagte Cayleb. »Ich gebe zu, mir sagt die Vorstellung deutlich eher zu, dass er sich willentlich für die ... sagen wir lieber: Zurückgezogenheit entscheidet, als dass man ihn hier irgendwo in eine Zelle sperrt. Aber er hat wirklich Recht.«
»Also gut, mein Sohn«, sagte Staynair schweren Herzens.
»Und diese Fernsonden, die Ihr erwähnt habt, werden mich gewiss auch im Auge behalten, Seijin Merlin«, sagte Wylsynn mit einem schiefen Grinsen.
»Aber nicht, wenn Sie sich mit Pater Zhon oder einem der anderen zu einem Gespräch unter vier Augen zusammensetzen, Pater«, erwiderte Merlin leise. Der junge Priester lachte auf.
»Das merke ich mir!«, sagte er. Dann wurde er erneut sehr viel ernster.
»Ihr habt gefragt, ob es vielleicht noch einen anderen Schlüssel geben könnte oder etwas Vergleichbares, und ich habe gesagt, ich wüsste nichts davon. Ich glaube nicht an einen weiteren Schlüssel. Wenn das stimmt, braucht Ihr Euch vermutlich keine Sorgen darum zu machen, jemand könnte gezielt das wecken, was dort unter dem Tempel ruht – was auch immer es nun ist. Aber es gibt einen Grund, warum ich der Ansicht war, Eure Bemerkung, Ihr wäret fast ›tausend Jahren‹ tot, würde doch einer gewissen Ironie nicht entbehren, Merlin.«
»Und was ist das für ein Grund?«, fragte Merlin gedehnt nach.
»Weil laut der Vision Schuelers«, erklärte Wylsynn leise, »tausend Jahre nach der Schöpfung die Erzengel selbst zurückkehren werden, um dafür zu sorgen, dass Mutter Kirche weiterhin den wahren Plan Gottes erfüllt.«
Merlin blinzelte, nachdem seine abgespeicherten Erinnerungen ihm noch einmal das gesamte Gespräch gezeigt hatten. Wieder lief ihm ein – gewiss nur eingebildeter – Schauer über den Rücken.
Die Energiequellen unter dem Tempel hatten ihm schon die ganze Zeit über Sorgen bereitet. Er hatte immer gedacht, es gäbe nichts, was ihm wichtiger wäre, als endlich die Wahrheit darüber herauszufinden. Nun begriff er, dass die Wirklichkeit sogar noch schlimmer sein mochte, als er sich das auszumalen gewagt hatte.
Die Erzengel werden zurückkehren , dachte er. Was zur Hölle soll denn das bedeuten? Waren diese Wahnsinnigen verrückt genug, da unten ein paar ›Erzengel‹ in Kryo-Schlaf zu haben? Waren die wirklich bereit, darauf zu vertrauen, dass die Systeme derart lange durchhalten würden? Und selbst wenn, konnten diese Systeme denn überhaupt so lange durchhalten?
Soweit Merlin – oder Nimue – das wusste, hatte niemand die Systeme zur Kryo-Lagerung länger als dreißig oder vierzig Jahre am Stück betrieben. Theoretisch sollten sie ja anderthalb Jahrhunderte durchhalten. Aber neun Jahrhunderte?
Aber vielleicht geht es darum überhaupt nicht. Vielleicht haben wir es hier ja wirklich mit einer KI zu tun.
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