Die Übermacht - 9
zu tun, was er von den beiden zu hören erwartete. Aber sich auf ihre Berichte zu konzentrieren würde ihm deutlich schwerer fallen als sonst. Er würde vorgeben müssen, nichts lenke ihn ab. Er konnte ihnen ja schlecht erklären, was ihn so sehr beschäftigte – und das machte es ungleich schlimmer, denn schließlich waren auch diese beiden Charisianer gut mit Sir Gwylym Manthyr befreundet.
»Richtig«, sagte nun Maikel Staynair von seinem Arbeitszimmer aus. »Ich wünschte bei Gott, wir könnten etwas tun. Aber uns sind die Hände gebunden.«
»Irgendetwas muss man doch tun können!«, protestierte Domynyk Staynair. Er kannte Manthyr länger – und besser – als alle anderen. Zorn schnürte ihm fast die Kehle zu. »Wir können doch nicht einfach zulassen, dass dieser Schlächter Clyntahn ...«
Seine Stimme erstarb. Die Mienen der anderen verhärteten sich. Sie wussten ganz genau, was jedem Charisianer bevorstand, der nach Zion verschleppt wurde, und ganz besonders jenen, die beim bewaffneten Widerstand gegen die ›Vierer-Gruppe‹ aufgegriffen worden waren.
Und genau wie Cayleb schon gesagt hatte, konnten sie nicht das Geringste dagegen tun.
»Ich könnte das Schwebeboot nehmen«, sagte Merlin schließlich.
»Und dann?«, verlangte Cayleb mit noch rauerer Stimme zu wissen. Domynyk Staynair mochte Manthyr ja schon länger kennen. Aber vor der Felsnadel, in der Klippenstraße und im Darcos-Sund war Sir Gwylym Caylebs Flaggoffizier gewesen: Er war der Mann, der sein eigenes Schiff versenkt hatte bei dem verzweifelten Versuch, Caylebs Vater rechtzeitig zu erreichen.
»Was würdet Ihr denn dann tun?«, fuhr der Kaiser im gleichen unnachgiebigen Tonfall fort. »Nicht einmal Seijin Merlin kann ein paar hundert kranke, verwundete, halb verhungerte Männer retten, die sich mitten auf dem Kontinent befinden! Wir können ohnehin nur raten, ob die Inquisition die Gefangenen über Land oder auf dem Seeweg transportiert, das wisst Ihr auch! Aber nehmen wir einmal an, sie würden sich für den Landweg entscheiden. Selbst wenn Ihr es fertig brächtet, im Alleingang jeden einzelnen Gardisten zu erschlagen, wie wolltet Ihr die Leute denn von East Haven fortschaffen, bevor der ganze Rest der verdammten Tempelgarde und der Dohlaran Army Euch einholt? Ganz zu schweigen davon, dass es dann Dutzende von Zeugen gäbe, die beobachtet hätten, was selbst für einen Seijin schlichtweg unmöglich wäre!
Aber selbst wenn sich der Tempel dafür entscheiden sollte, die Gefangenen auf dem Seeweg zu transportieren: Wie wollt Ihr ihnen helfen? Wollt ihr die Transportschiffe in die Luft jagen? Das würde wenigstens verhindern, dass all diese Männer der Inquisition in die Hände fallen – und glaubt bloß nicht, mir wäre nicht klar, was für ein Segen das wäre, Merlin! Aber wenn Pater Paityr Recht hat und unter dem Tempel tatsächlich ›Erzengel‹ schlafen, haltet Ihr es dann nicht auch für wahrscheinlich, dass der Einsatz fortschrittlichster Waffen derart nahe dem Tempel sie vielleicht aufweckt?«
»Alles gute Argumente. Aber wir können nicht einfach nur vor lauter Sorge überhaupt nichts tun!«, gab Merlin zurück.
»Merlin, ich weiß genau, wie sehr Ihr unseren Leuten helfen wollt«, ergriff nun wieder Erzbischof Maikel das Wort. »Aber was das Risiko betrifft, hat Cayleb Recht. Das wisst Ihr doch selbst!«
»Natürlich weiß ich das!«, fuhr Merlin Staynair beinahe schon an. Er klang unbeherrschter, als man das je bei ihm erlebt hatte. »Aber auch Domynyk hat nicht ganz Unrecht. Wie Cayleb schon sagt, es wäre immer noch besser, sie auf den Grund des Ozeans zu schicken, statt dass Clyntahn sie alle zu Tode foltert, bloß um der Bevölkerung von Zion ein weiteres widerwärtiges Schauspiel zu bieten!«
»Merlin.« Sharleyan sprach sehr sanft, und nun legte sie ihrem persönlichen Leibwächter die Hand auf den gepanzerten Unterarm. »Keiner von uns will das geschehen lassen. Und jeder von uns würde gern alles tun, um es zu verhindern. Aber Cayleb hat Recht! Wenn sie auf dem Landweg nach Zion gebracht werden, könnten wir sie niemals vom Festland fortschaffen. Wenn sie tatsächlich auf dem Seeweg transportiert würden, was meint Ihr wohl, was geschehen würde, wenn alle Transportschiffe gleichzeitig untergingen – bei völlig ruhiger See und klarem Wetter? Denkt Ihr vielleicht, jemand würde das für einen ganz ungewöhnlichen Zufall halten?« Als er zu ihr hinunterblickte, schüttelte sie den Kopf. »Jeder wüsste, dass da
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