Die Übermacht - 9
Reformwillen rührte von seinem Zorn auf Gott her, auf die Erzengel – weil sie das zuließen? Wenn Shan-wei die Menschen durch deren Herzensgüte zu verführen vermochte, indem sie sachte, ganz sachte deren Glauben und deren Liebe zu ihren Mitmenschen entstellte und manipulierte, wie viel leichter mochte es dann für sie sein, diese Verführung durch das dunkle Gift des Zorns zu vollbringen? Und wohin konnte einen Zorn wie dieser führen?
Ich weiß, wie mein Herz die Welt sieht und was ich glaube , dachte Paityr Wylsynn. Auch wenn ich mir wünschte, es wäre anders: Ich muss mir eingestehen, dass es mir die Botschaft der Kirche von Charis angetan hat. Die Wahrheit ist die Wahrheit, egal, was man vorgibt, sehen zu wollen. Aber bin ich Teil der Finsternis geworden in meinem Streben, dem Licht zu dienen? Wie und mit welchem Recht kann ein Mensch versuchen, ein treuer Priester Gottes zu sein, wenn er nicht einmal weiß, wie die Wahrheit seines eigenen Herzens aussieht ... oder ob die Wahrheit seines Herzens nun dem Licht entspringt oder der Finsternis?
Der Intendant öffnete wieder die Augen, betrachtete erneut Howsmyns gewaltigen Gießereikomplex in all seinem Feuerschein. Sorgen bekümmerten ihn.
.II.
HMS Royal Charis , West-Isle-Kanal,
und Kaiserlicher Palast, Cherayth,
Königreich Chisholm
Wild schwangen die Laternen in der Kajüte hin und her. Ihr Lichtschein tanzte über die schweren Wandteppiche und das schimmernde Holz des hochglanzpolierten Tisches. Gläserne Karaffen klirrten, sangen zittrig eine Melodie, Planken und Spanten ächzten kläglich dazu. Mit zahllosen eisigen Fäusten hämmerte der Regen auf das Oberlicht, und jedes Mal, wenn HMS Royal Charis in eine der gewaltigen grauen Wellen krachte, erbebte das ganze Schiff, und ein Dröhnen ging durch den Rumpf, als sei er von einer Kanone getroffen.
Eine Landratte hätte Lärm wie dieser entsetzlich beunruhigt – vorausgesetzt, diese Landratte wäre wenigstens kurz nicht damit beschäftigt, sich nach Leibeskräften zu übergeben. Cayleb Ahrmahk hingegen hatte noch nie unter Seekrankheit gelitten. Er hatte schon so entsetzliche Stürme überstanden, dass ihm raue See und Sturm als kleinere Unannehmlichkeit erschienen.
Na ja, gut, um ehrlich zu sein: ›Kleinere‹ Unannehmlichkeit ist eine Untertreibung , gestand er sich ein.
Es war erst früher Nachmittag. Doch als Cayleb durch das Heckfenster auf die tosenden Wellen im Kielwasser der Royal Charis blickte, hätte es den Lichtverhältnissen gemäß auch schon Nacht sein können. Gewiss, aus seiner eigenen Heimat war Cayleb es gewohnt, dass es zur Winterzeit in diesen recht nördlichen Breitengraden früh dunkel wurde. Aber das war selbst für den West-Isle-Kanal wirklich sehr früh. Ein dicht bewölkter Himmel konnte so etwas nun einmal bewirken, und wenn das Wetter im Augenblick auch nur außergewöhnlich ... nun, lebhaft war, so würde es schon bald ungleich schlimmer werden. Die Wetterfront, die ihnen von der Zebediah-See entgegenrollte, würde das hier wie einen Spaziergang wirken lassen.
»Prächtiges Wetter, das du dir da für diese kleine Reise ausgesucht hast!«, sagte eine Frauenstimme, die außer Cayleb niemand an Bord der Royal Charis hören konnte.
»Na ja, ausgesucht habe ich es mir eigentlich nicht«, erwiderte er. Er musste recht laut sprechen, damit das Com, das in den Schmuck auf seiner Brust, das juwelenbesetzte Szepter, eingelassen war, seine Stimme bei all diesen Hintergrundgeräuschen auffangen konnte. Aber bei diesem Wetter würde ihn niemand belauschen können. »Dein Mitgefühl ist nicht gerade überwältigend, Liebste.«
»Unfug! Ich kenne dich doch, Cayleb! Du hast einen Heidenspaß bei der Sache«, versetzte Kaiserin Sharleyan unverblümt. Sie saß im Kaiserlichen Palast, im Studierzimmer ihrer Suite. Sie hatte es sich in einem Sessel gleich neben dem Ofen gemütlich gemacht, der ihrer ganzen Bibliothek willkommene Wärme spendete. Ihre kleine Tochter schlief friedlich, den Kopf an der Schulter ihrer Mutter.
»Er freut sich wirklich auf diese belebenden Augenblicke, nicht wahr?«, merkte eine andere, deutlich tiefere Stimme über das gleiche Com-Netzwerk an.
»Fallt Ihr mir jetzt auch noch in den Rücken, Merlin?«, begehrte Cayleb zu wissen.
»Ich konstatiere lediglich Tatsachen, Euer Durchlaucht. Schmerzhaft offenkundige Tatsachen, wie ich hinzufügen möchte.«
Unter gewöhnlichen Umständen wäre Merlin bei Cayleb an Bord der Royal Charis gewesen. Schließlich
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