Die Übermacht - 9
Raimair, wenn er nicht über einen funktionsfähigen Verstand verfügte. Selbst manche Offiziere, die es eigentlich hätten besser wissen müssen, neigten dazu, derlei zu vergessen. Zu häufig wurden Soldaten für kaum mehr als gedankenlose Schachfiguren auf einem gewaltigen Spielbrett gehalten. Sie waren Vollstrecker in Uniform, gut genug, um Feinde zu töten und dafür zu sorgen, dass die eigenen Untertanen schön brav blieben. Anspruchsvollere Aufgaben für einen einfachen Soldaten? Nicht doch! Aber so zu denken war eine Schwäche, die der Leiter von Prinz Hektors Spionageabteilung mehr als einmal ausgenutzt hatte. Sich dieses Fehlers selbst schuldig zu machen hatte Coris nicht vor.
»Sie hat nicht mit mir darüber gesprochen, Mylord«, erklärte Raimair ebenso leise. »Aber sie ist nicht so gut darin, ihre Gedanken zu verbergen, wie sie das selbst von sich annimmt. Sie macht sich Sorgen, und ich glaube, für Sie gilt das Gleiche. Deswegen mache ich mir jetzt also so meine Gedanken, ob meine Jungs und ich uns vielleicht auch Sorgen machen sollten, Sie verstehen?«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen diese Frage beantworten.« Coris schwieg, starrte in die Flamme der Lampe und schürzte mehrere Sekunden lang nur nachdenklich die Lippen. Dann richtete er den Blick wieder auf Raimair.
»Die Prinzessin und der Prinz sind sehr wertvolle Spielfiguren, Tobys«, sagte er dann. »Das wissen Sie selbst. Aber ich habe kürzlich Berichte aus der Heimat erhalten.«
Wieder schwieg er, und Raimair nickte.
»Aye, Mylord. Ich habe die Depesche des Grafen Anvil Rock und dieses Regentschaftsrats selbst gesehen, als sie eingetroffen ist.«
»Von dem offiziellen Bericht des Grafen rede ich hier nicht«, widersprach Coris leise. »Er wird genauso gut wie ich wissen, dass jeder Bericht, den er nach Talkyra schickt, hier zunächst geöffnet und von mindestens zwei Geheimdienstlern gelesen wird, bevor er mich oder die Prinzessin erreicht. Und vergessen Sie nicht – Anvil Rock kooperiert mit den Charisianern. Ob er das nun aus freien Stücken tut oder unter Zwang, er wird höchstwahrscheinlich berücksichtigen, dass auch andere seine Schreiben lesen, wann immer er einen Bericht abfasst. Er wird ganz gewiss nicht wollen, dass ... bestimmte Gruppen zu dem Schluss kommen, er kooperiere mit Charis, weil er das möchte . Ich will damit nicht behaupten, er würde mich oder Prinzessin Irys belügen. Aber die Wahrheit kann man immer so oder so ausdrücken, nicht wahr? Und manchmal kann man jemanden am besten in die Irre führen, indem man bestimmte Dinge einfach unerwähnt lässt.«
»Aber der Graf ist Ihr Vetter, Mylord.« Raimair klang ernstlich besorgt. »Denken Sie, er wird versuchen, auf Kosten der Prinzessin sein Schäfchen ins Trockene zu bringen? Auf Kosten der Prinzessin und des Jungen – des Prinzen, meine ich?«
»Das halte ich für ... unwahrscheinlich.« Coris zuckte die Achseln. »Anvil Rock war Prinz Hektor und dessen Kindern schon immer sehr zugetan. Ich bin geneigt davon auszugehen, dass er unter den gegebenen Umständen in bestmöglicher Art und Weise die Interessen Prinz Daivyns zu wahren versucht – und genau so liest sich auch seine Korrespondenz. Bedauerlicherweise sind wir vierzehntausend Meilen weit von Manchyr entfernt – Luftlinie, wohlgemerkt! Und ein Mann kann sich gewaltig verändern, wenn er plötzlich auf dem Thron sitzt, wie auch immer er dorthin gelangt sein mag. Deswegen habe ich ja auch einige Leute in Manchyr zurückgelassen, die für mich Augen und Ohren sind, damit ich zusätzlich auch noch unabhängige Berichte erhalte.«
»Und von diesen Berichten sprechen Sie gerade, Mylord?« Konzentriert kniff Raimair die Augen zusammen, und Coris nickte.
»Ganz genau. Tatsächlich stimmen sie sogar bemerkenswert mit dem überein, was Graf Anvil Rock zu erzählen hat. Und genau das beunruhigt mich so.«
»Jetzt haben Sie mich abgehängt, Mylord.«
»Das war nicht meine Absicht.« In einem angespannten Lächeln ließ Coris die Zähne aufblitzen. »Ich hatte nur eigentlich gehofft, der Graf lasse alles ein wenig günstiger erscheinen, als die Umstände es zulassen. Dass es in Wirklichkeit mehr Unruhen gäbe, als uns der Graf berichtet – mehr Widerstand gegen die Charisianer und vor allem gegen diese Kirche von Charis. Dass Anvil Rock versucht, seinen eigenen Hintern zu retten, indem er in seinen Depeschen an uns herunterspielt, wie brisant die Lage in der Heimat ist.«
Raimair hob die Augenbrauen, und
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