Die Übermacht - 9
der Seite ihres Vaters weichen wollen. Doch Prinz Hektor hatte darauf bestanden. Und es war ja auch ihre Pflicht! Sie trug Verantwortung. Jemand musste sich um Daivyn kümmern. Er war noch so klein, viel zu jung, um eine derart wertvolle Schachfigur für die wahrhaft Mächtigen dieser Welt abzugeben – viel zu klein, um so viele Todfeinde zu haben. Und nun fühlte sich diese Zuflucht allzu sehr an wie ein Gefängnis: keine Festung, eine Falle.
Irys hatte Zeit gehabt nachzudenken. Ja, sie hatte sogar viel zu viel Zeit gehabt in all den Monaten, die sie nun schon zusammen mit ihrem Bruder ›Gast‹ bei ihrem entfernten Verwandten war, König Zhames von Delferahk. Monate, in denen sie sich fragen musste, ob sie vielleicht nur der einen Gefahr entronnen waren, um geradewegs in eine noch viel schlimmere hineinzugeraten. Monate, in denen sie die Stirn immer wieder an die Gitterstäbe gelegt hatte, die nur sie allein zu sehen vermochte. Monate, in denen sie darüber grübelte, warum ihr Vater sie und Daivyn fortgeschickt hatte. Und was vielleicht schlimmer war als alles andere: Monate, in denen sie darüber grübelte, wer und was ihr Vater wirklich gewesen war.
Was ihr an Gedanken dabei durch den Kopf ging, mochte Irys nicht. Sie starrte in das Herz des heraufziehenden Sturmes, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war klar: So an ihren Vater zu denken, fühlte sich wie ein Treuebruch an. Es fühlte sich falsch an. Sie hatte ihren Vater geliebt, und sie wusste, dass auch er sie geliebt hatte. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Er hatte sie viel gelehrt – über die Kunst der Politik und über das Taktieren, fast als wäre es für Irys möglich gewesen, selbst eines Tages den Thron zu besteigen. Aber die Liebe, die Irys für ihren Vater empfand, hatte sie immer davon abgehalten, ihn so ehrlich und furchtlos zu betrachten, wie sie das Gewitter und die Regenwolke betrachtete, die über den gewaltigen See näher und näher kamen. In vielerlei Hinsicht war Prinz Hektor ein guter Regent gewesen. Doch nun, wo Irys in Delferahk gefangen war und um das Leben ihres Bruders bangte, begriff sie, dass ihr Vater auch eine Seite gehabt hatte, die seine Tochter nie an ihm wahrgenommen hatte.
Vielleicht habe ich es nicht wahrhaben wollen! Weil ich ihn zu sehr geliebt habe? Habe ich mir vielleicht gewünscht, dass er immer und für alle Zeiten genau der perfekte Regent und der perfekte Vater sein würde, für den ich ihn immer gehalten habe?
Sie wusste es nicht. Vielleicht würde sie es nie erfahren. Doch nun war die Frage gestellt; sie konnte nicht mehr zurückgezogen werden. Also hatte Irys angefangen, über Dinge nachzudenken, die ihr nie zuvor in den Sinn gekommen waren. Ob ihr Vater vielleicht in Wahrheit ein Tyrann gewesen war. Und so wohlwollend er möglicherweise auch in seinem eigenen Fürstentum aufgetreten sein mochte: Anderen Reichen gegenüber hatte es kein Wohlwollen gegeben. Irys dachte darüber nach, wie skrupellos er Zebediah unterworfen hatte, wie er sich in Rivalität zu König Sailys von Chisholm und König Haarahld von Charis begeben hatte. Sie dachte an seinen Ehrgeiz, ein eigenes Kaiserreich zu begründen, seine Intrigen und seine Getriebenheit, das auch in die Tat umzusetzen. An die Bestechungsgelder, die er Vikaren und anderen ranghohen Kirchenmännern gezahlt hatte, um sie gegen Charis einzunehmen.
Nichts davon hatte Hektor zu einem schlechten Vater gemacht. Oh, aus dieser Warte betrachtet war mehr als klar, dass es all diese Intrigen gewesen waren, die ihm keine Zeit für seine Kinder gelassen hatten. War das einer der Gründe, warum ihr älterer Bruder so eine große Enttäuschung für den Vater gewesen war? Stimmte es? War der Fürst von Corisande beschäftigter damit gewesen, sein eigenes Reich auszuweiten, als mit dem Sohn umzugehen, der ihn eines Tages beerben sollte? Dabei wäre es so wichtig gewesen, ihn all die Dinge zu lehren, die ein Herrscher können musste. Warum hatte er seine Zeit lieber mit Irys verbracht, mit der Tochter, die er nicht auf den Thron heben konnte? Weil er vernarrt in sie war, wie Väter es gern in ihre Töchter waren? Weil Irys ihn an ihre Mutter, seine verstorbene Frau, erinnerte? Weil Irys seine Erstgeborene war, das Kind, das seine Gemahlin ihm geschenkt hatte, bevor der Ehrgeiz Hektors Horizont so immens eingeschränkt hatte?
Auf keine dieser Fragen bekäme Irys wohl je eine Antwort. Sie war sich nur sicher, dass ihr Vater stets nur das Beste für seine Kinder gewollt
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