Die Übermacht - 9
hatte. Vielleicht war das nicht genau das gewesen, was sie am meisten von ihm gebraucht hätten, aber es war das Beste, was ihr Vater ihnen hatte geben können. Irys würde an ihrer Liebe zu ihm nie zweifeln – und auch nicht an seiner Liebe zu ihr.
Doch sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie es nicht länger wagen durfte, sich durch diese Liebe blenden zu lassen. Die Welt war viel größer, viel komplexer und ungleich gefährlicher, als ihr bislang je bewusst gewesen war. Wenn ihr Bruder, Prinz Daivyn, ihr rechtmäßiger Fürst, so klein er auch war, und sie selbst in dieser Welt überleben wollten, durfte sich Irys keinerlei Illusionen hingeben. Sie musste wissen, wer ein Feind war und wer nur vorgab, ein Freund zu sein – und warum dem so war. Sie wusste, dass Phylyp Ahzgood – der Mann, den ihr Vater als Hüter und Ratgeber seiner Kinder ausgewählt hatte – die Welt schon immer viel klarer gesehen hatte als sie selbst. Und Ahzgood hatte auch ein sehr viel differenzierteres Bild von ihrem Vater als sie. Irys vermutete, dass er versuchte hatte, sie so sanft und vorsichtig wie möglich zu lehren, die Welt mit seinen Augen zu sehen.
Ich werd’s versuchen, Phylyp! , dachte sie nun, als die ersten schweren Regentropfen gegen die steinernen Wände des Schlosses platschten und Irys’ Wangen benetzten. Ich werd’s versuchen! Ich hoffe nur, mir bleibt noch genug Zeit, deine Lektionen auch zu lernen.
»Hängt sie sich schon wieder aus dem Fenster, Tobys?«, fragte Phylyp Ahzgood, seines Zeichens Graf Coris, ein schiefes Grinsen auf den Lippen.
»Kann nicht behaupten, dass sie sich richtig aus dem Fenster hängt, Mylord«, erwiderte Tobys Raimair vorsichtig. Nachdenklich rieb er sich seinen Walross-Schnurrbart; sein kahler Schädel schimmerte im Lampenschein. »Vielleicht hat sie es mittlerweile geschlossen. Vielleicht auch nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Das Mädchen vermisst einfach draußen im Wetter zu sein, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«
»Ich weiß«, erwiderte Coris und lächelte traurig. »Sie hätten sie in Corisande sehen sollen, Tobys! Wirklich, sie hat jede freie Minute auf dem Rücken eines Pferdes verbracht. Hat Prinz Hektors Wachen fast in den Wahnsinn getrieben, sie im Auge zu behalten.«
»Aye?« Raimair neigte den Kopf zur Seite, strich sich erneut über den Bart und gluckste. »Aye, das kann ich mir vorstellen. Bei Langhorne, ich wünschte, sie könnte das hier genauso halten!«
»Ja«, erwiderte Coris, »ich mir auch, wahrhaftig! Aber selbst wenn der König das zuließe, könnten wir es ihr wohl trotzdem nicht gestatten, nicht wahr?«
»Nein, wohl nicht, Mylord«, stimmte Raimair mit Nachdruck zu.
Mehrere Sekunden lang blickten die beiden einander schweigend an. Die zwei hätten nicht unterschiedlicher sein können. Coris hatte helles Haar, war von durchschnittlichem Körperbau, vielleicht sogar ein wenig schmächtig, mit dem gepflegten Auftreten eines Aristokraten, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Raimair hingegen sah genau nach dem aus, was er tatsächlich war: ein Kriegsveteran, der dreißig Jahre lang in der Corisandian Army gedient hatte. Er hatte dunkle Augen, einen bemerkenswert muskulösen Körperbau und kleidete sich immer äußerst schlicht. Und er war vom Körper wie vom Verstande her genauso robust, wie er wirkte. Captain Zhoel Harys hatte behauptet, als er ihn Coris als Leibwächter für Irys empfohlen hatte, er sei äußerst geschickt mit den Händen. Das stimmte.
Und das sind ganz schön große, muskulöse Hände! , dachte Coris beifällig.
»Verzeihen Sie, wenn ich das frage, Mylord, und wenn mich das nichts angeht, so sagen Sie das bitte. Aber geht meine Fantasie mit mir durch, oder beunruhigt Sie in jüngster Zeit mehr als sonst?«
»Sonderbar, Tobys. Ich hätte gar nicht gedacht, dass Sie so etwas wie Fantasie überhaupt haben.«
»Oh, aye, ich habe schon Fantasie.« Raimair lächelte dünn. »Und in letzter Zeit ist sie ziemlich emsig.« Sein Lächeln verschwand. »Ich bin nicht sonderlich begeistert über das, was ich in letzter Zeit aus ... sagen wir: Orten im Norden höre.«
Sie blickten einander direkt in die Augen. Es dauerte einen Moment, doch dann nickte Coris.
»Ich bin beunruhigt, in der Tat«, gestand er leise. Er hatte schon vor langer Zeit erfahren, wie riskant es war, dem äußeren Anschein nach zu urteilen. Schon vor langer Zeit hatte Coris gelernt, dass ein Unteroffizier niemals so lange im Dienst bleiben würde wie
Weitere Kostenlose Bücher