Die Übermacht - 9
Frau den Großinquisitor auf seinem eigenen Gebiet überlistet hatte, mitten im Herz seiner Macht und seiner Autorität. Und sie hatte es so geschickt und elegant geschafft, dass er immer noch nicht wusste, was ihm widerfahren war.
Oder dass es jemanden gab, der dafür verantwortlich war.
Die Frau, die vor Cahnyr stand, hatte all das ausgeheckt. Sie war in viele verschiedene Pläne gleichzeitig verstrickt gewesen, ohne dabei auch nur einen einzigen aus den Augen zu verlieren. Sie hatte der Inquisition so viele Seelen entrissen – einschließlich der Zhasyn Cahnyrs. Aber diese Frau würde nicht einmal ihre rechte Hand wissen lassen, was die linke tat, solange das nicht absolut unumgänglich wäre. Cahnyr verübelte ihr diese Schweigsamkeit keineswegs. Er wusste, ihre Verschwiegenheit war Schutz für ihn, für sie, ihre Pläne, nicht etwa Zweifel an ihm. Aber er machte sich ernstlich Sorgen darüber, was sie wohl als Nächstes im Schilde führen mochte.
»Wie auch immer Ihre Pläne aussehen mögen, meine Liebe«, sagte er, »ich bete um Erfolg.«
»Seid vorsichtig, Eure Eminenz!« Unvermittelt wurde ihr Lächeln geradezu schelmisch. »Erinnert Euch, welcher Berufung ich früher gefolgt bin! Vielleicht wollt Ihr mir lieber doch nicht einen derartigen Blankoscheck ausstellen!«
»Ach ...« Sanft strich er ihr über die Wange. »Ich glaube, das Risiko gehe ich ein.«
»Madame Pahrsahn! Wie schön, Sie wiederzusehen!«
Der junge Mann mit kastanienbraunem Haar und grauen Augen umrundete seinen übergroßen Schreibtisch und umschloss mit beiden Händen die zarten Finger seiner dezent parfümierten Besucherin. Er verneigte sich und hauchte einen zarten Kuss auf ihren Handrücken. Dann reichte er ihr den Arm. Untergehakt führte er sie quer durch das große Arbeitszimmer zu den beiden Sesseln hinüber, die an einem kleinen Beistelltisch aus gehämmertem Kupfer einander gegenüberstanden.
»Ich danke Ihnen, Meister Qwentyn«, sagte sie und nahm Platz.
Ein frisch geschürtes Feuer knisterte fröhlich in einem Kamin zu ihrer Rechten. Es verschlang lautstark glühende Kohle, die vermutlich, so ging es Aivah durch den Kopf, aus Zhasyn Cahnyrs Erzdiözese in Gletscherherz stammte. Owain Qwentyn saß ihr gegenüber und beugte sich vor, um ihr persönlich heiße Schokolade in eine filigrane Tasse einzuschenken und ihr anschließend zu reichen. Er goss sich ebenfalls ein, nahm Untertasse und Tasse in die Hand, lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte seine Besucherin erwartungsvoll an.
»Ich muss zugeben, ich war mir nicht sicher, dass Sie wirklich heute kommen würden«, sagte er und deutete mit der freien Hand auf das große Fenster seines Arbeitszimmers. Der graue Himmel des vorangegangenen Tages hatte sein Versprechen eingelöst, für Winterwetter zu sorgen: Graupel prasselte gegen die Scheibe, glitt daran herab und legte sich in kleinen, verkrusteten Wellen auf das Fensterbrett. »Ich hätte es ja vorgezogen, unter diesen Umständen zu Hause zu bleiben«, setzte er hinzu.
»Leider war mir das nicht möglich.« Charmant lächelte ihn Madame Pahrsahn an. »Ich muss innerhalb der nächsten Fünftage noch einiges erledigen. Ohne meinen Zeitplan strikt einzuhalten, bekomme ich das niemals alles fertig.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Owain und meinte es ganz aufrichtig.
Das Bank- und Investmentkartell des Hauses Qwentyn war in jeder Hinsicht das größte, wohlhabendste und einflussreichste Bankhaus der Republik Siddarmark, und das schon seit Generationen. Owain Qwentyn hatte diese Position nicht dem Zufall zu verdanken. Ein so junger Mann wie er wäre niemals in seine derzeitige Stellung gekommen oder hätte sich dort halten können – Familienbeziehungen hin oder her –, wenn er nicht eindeutig unter Beweis gestellt hätte, dieser Verantwortung auch gewachsen zu sein. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte man ihm einige der heikelsten Kunden des ganzen Hauses anvertraut, was ihm erlaubt hatte, einige der faszinierendsten Finanzstrategen kennen zu lernen. Doch Aivah Pahrsahn war gewiss das faszinierendste Mysterium, das ihm bislang untergekommen war.
Ihre ersten Konten im Hause Qwentyn hatte sie bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten eröffnet (dabei hätte Owain steif und fest behauptet, seine Besucherin könne unmöglich älter sein als fünfunddreißig). Der Saldo war beneidenswert. Tatsächlich ging es, wenn Owain ehrlich sein wollte, weit darüber hinaus. Berücksichtigte man die Immobilien
Weitere Kostenlose Bücher