Die Übermacht - 9
Berufung doch verloren. Es kann geschehen, so sehr wir uns auch wünschen, es wäre nicht möglich. Wenn es geschieht, dann sind die, die ihre Berufung verloren haben, auch diejenigen, die sich selbst dafür am härtesten strafen. Tief in ihrem Innersten glauben sie, dass sie in Wahrheit nicht von sich aus die Berufung verloren haben, sondern dass sie ihnen gezielt entzogen wurde. Dass sie sich in irgendeiner Weise als unzulänglich für die Aufgaben erwiesen haben, die Gott für sie vorgesehen hatte, und dass Er ihnen eben wegen dieser Unzulänglichkeit jenen Funken genommen hat, der sie einst dazu bewogen hat, Ihm aus freudiger Liebe zu dienen.
Aber so funktioniert das nicht, mein Sohn.«
Staynair richtete seinen Sessel wieder auf, stützte beide Ellenbogen auf die Auflage seines Schreibtischs, faltete die Hände und beugte sich seinem Besucher noch ein wenig weiter entgegen.
»Gott versagt sich niemandem. Wir können Gottes Liebe nur verlieren, indem wir uns von Ihm abwenden und Ihn verlassen. Das ist der absolute, zentrale, unerschütterliche Kern meines eigenen Glaubens ... und auch des Ihren.« Nun blickte er Paityr fest in die Augen. »Hin und wieder können wir ins Straucheln geraten. Wir können vom Wege abkommen. Das geschieht allen Kindern nur allzu leicht. Aber so wie liebende Eltern immer auf ihr Kind warten, wartet auch Gott auf uns, sollten wir vom Wege abkommen. Er ruft uns, auf dass wir Seine Stimme hören und uns von ihr nach Hause zurückleiten lassen. Dass ein Priester die Berufung verloren hat, das Amt eines Priesters zu bekleiden, bedeutet nicht, dass er kein Kind Gottes mehr ist. Sollten Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie wahrhaftig nicht – nicht mehr – zum Priesteramt berufen sind, werde ich Ihnen vorübergehend Ihre Gelübde erlassen. Dann können Sie darüber meditieren, was zu tun für Sie das Beste ist. Ich glaube zwar nicht, dass es das ist, was Sie brauchen. Aber wenn Sie selbst dieser Ansicht sein sollten, dann dürfen wir beide nicht vergessen, dass Sie selbst das am besten beurteilen können. Ich werde mich Ihrer Entscheidung also fügen. Aber ich beschwöre Sie, nichts Unwiderrufliches zu tun, bevor Sie sich Ihres Urteils nicht wirklich sicher sind. Und was auch immer Sie letztendlich beschließen zu tun, eines sollten Sie wissen: Sie sind ein wahres Kind Gottes, ob Sie nun ein Priester sind oder im Laienstand stehen. Er hat noch viele Aufgaben für Sie ... ebenso wie ich.«
Reglos saß Paityr da. Tief in seinem Herzen spürte er Ärger. Und der Ärger traf auf den Zorn, der dort in letzter Zeit wohnte. Der Ärger war ein Blasebalg, der das Feuer noch weiter anfachte, den Zorn wachsen ließ. Das beschämte Paityr, und die Scham machte ihn noch zorniger. Dabei wusste er, dass er in diesem Zorn engstirnig und kindisch war. Er begriff gerade eines: Er hatte tatsächlich darauf gehofft, Staynair werde ihm versichern, er könne unmöglich seine Berufung verloren haben. Er hatte gehofft, der Erzbischof werde ihm sagen, wenn die Heilige Schrift sage, ein Priester bleibe für alle Zeiten ein Priester, dann bedeute das auch, eine wahrhaftige Berufung sei in dem Maße unvergänglich, wie die Inquisition das stets behauptet hatte.
Stattdessen hatte ihm der Erzbischof diesen Vortrag gehalten. Er hatte ihm etwas geschenkt, das begriff Paityr jetzt: Wahrheit, Mitgefühl und Liebe ... und er hatte sich geweigert, Paityr wie ein Kind zu behandeln.
Die Stille zog sich in die Länge. Schließlich lehnte sich Staynair in seinem Sessel wieder zurück.
»Ich weiß nicht, ob es einen Unterschied bei dem ausmacht, was Sie gerade denken und fühlen, mein Sohn, aber Sie sind nicht der einzige Priester in diesem Raum, der sich jemals gefragt hat, ob er wahrhaftig berufen sei oder nicht.«
Erneut riss Paityr die Augen auf, und Staynair verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen.
»Oh ja, es hat diese Zeit des Zweifelns gegeben – noch vor Ihrer Geburt, verstehen Sie, ich bin ja doch schon ein wenig älter. Damals hat sich ein sehr junger Unterpriester namens Maikel Staynair gefragt, ob es nicht ein gewaltiger Fehler gewesen sei, die Profess abzulegen. Was sich damals in seinem Leben zugetragen hatte, war längst nicht so gewaltig und umwälzend wie das, was Sie in den letzten Jahren erfahren haben. Aber für diesen jungen Mann war das damals schon gewaltig und umwälzend genug. Er war zornig auf Gott.« Wieder blickten sie einander in die Augen. Paityr spürte, wie ein Stich seine Seele
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