Die Übermacht - 9
Merlin. Dank seiner deutlich schärferen Augen war es ihm möglich zu beobachten, wie die ersten Trupps der Army am Kai von Carmyn von Bord gingen. »Aber es wird Zeit, das zu ändern. Und Kynt ist genau der Richtige, damit einen guten Anfang zu machen.«
Sharleyan nickte. Kynt Clareyk, seines Zeichens Baron Green Valley, war ein ehemaliger Marine. Obwohl er erst vor recht kurzer Zeit in den Inneren Kreis aufgenommen worden war, hatte er doch schon seit einiger Zeit gewisse Mutmaßungen gehegt, welche Rolle Seijin Merlin bei all den Neuerungen gespielt hatte, die Charis überhaupt erst das Überleben ermöglicht hatten. Zugleich war er einer der angesehensten Offiziere der neuen Imperial Army. Selbst seine in Chisholm geborenen Kameraden, die an sich der Ansicht waren, Marines seien ausgezeichnet als Entermannschaften und für kurze Stippangriffe geeignet, aber für ausgedehnte Feldzüge schlichtweg unbrauchbar, hörten sehr genau zu, wenn Green Valley etwas zu sagen hatte.
»Aber ich wünschte immer noch, es gäbe ein anderes Betätigungsfeld für seine Talente«, setzte Sharleyan nach einer kurzen Pause hinzu. »Oder vielleicht sollte ich lieber sagen: Ich hoffe, hier geschieht nichts, wozu er seine Talente einsetzen muss.«
»Bis wir ein Möglichkeit finden, mit einer so kleinen Armee wie der unseren etwas zu besetzen, was so groß ist wie das Festland, ist das hier wahrscheinlich der beste Anwendungsbereich für seine Talente, der sich überhaupt finden lässt«, erwiderte Merlin gelassen. »Und dafür sei Gott gedankt! Eine Zeit lang dachte ich schon, wir würden ihn vielleicht doch noch in Corisande brauchen.«
»Das könnte immer noch passieren«, gab Sharleyan zu bedenken.
»Nicht, solange sich Koryn Gahrvai und sein Vater um die Lage kümmern«, widersprach Merlin ihr. »Die einzige Chance, die Craggy Hills Meute überhaupt hatte, wäre es gewesen, Herzog Margo und die Tempelgetreuen davon zu überzeugen, ihnen im Kampf gegen den Regentschaftsrat beizustehen. Schließlich hat ja dieser Rat versucht, wie hieß es doch gleich: ›in verräterischem Ehrgeiz, den rechtmäßigen Fürsten durch die eigene tyrannische Despotie zu ersetzen, im Dienste von Verrätern, Lästerern und Ketzern‹. Nachdem dieser Aufruf nicht gefruchtet hat, wusste ich, dass wir sie erledigt hatten. Vorerst.«
»Ich wünschte, Ihr hättet Euch nicht bemüßigt gefühlt, diese kleine Einschränkung hinzuzufügen«, gab die Kaiserin trocken zurück.
»Um ein wirklich uraltes Sprichwort von Terra zu zitieren, Eure Majestät: ›Nichts im Leben ist sicher – außer dem Tod und den Steuern.‹« Merlin lächelte, als die schlanken, zierlichen Schultern der Kaiserin vor unterdrücktem Lachen zitterten. Dann räusperte er sich.
»Entschuldigt, Eure Majestät«, sagte er laut, »aber mir scheint, Master Pahskal versucht, Eure Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
»Ich danke Euch, Merlin«, erwiderte sie, wandte sich von der Reling ab und lächelte den jungen Midshipman mit dem blonden Haar an, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.
Faydohr Pahskal war gerade dreizehn Jahre alt geworden. Er entstammte einer Fischerfamilie aus Cherayth, die sich niemals hätte vorstellen können, dass ihr Sohn eines Tages seiner Königin und Kaiserin so nahe sein würde. Offenkundig hatte der junge Bursche von Captain Kahbryllo Anweisungen erhalten, wie er sich dem hohen Gast zu nähern habe. Ebenso offensichtlich war die immense Unsicherheit, ob es denn wirklich ratsam wäre, Kaiserin Sharleyan zu stören. Schließlich hatten alle anderen hier sich auf die andere Seite des Achterdecks zurückgezogen, um ihr ein wenig Freiraum zu lassen.
»Darf ich davon ausgehen, dass der Captain Sie mit einer Nachricht hierher geschickt hat, Master Pahskal?«, fragte sie lächelnd.
»Äh, ja, Eure Majestät. Ich meine, jawohl, das hat er.« Das Blut schoss Pahskal ins Gesicht – was nicht leicht zu erkennen war. Immerhin hatte sich der Bursche dank seiner hellen Haut in der gleißenden Sonne der letzten Tage einen beachtlichen Sonnenbrand gefangen. »Ich meine«, fuhr er fort und stieß die Worte regelrecht verzweifelt hervor, »die besten Empfehlungen von Captain Kahbryllo, und er lässt fragen, ob Ihr vielleicht wünscht, in etwa einer Stunde an Land zu gehen, Eure Majestät.«
»Das wäre mir sehr recht, Master Pahskal«, erwiderte Sharleyan ernsthaft. »Ich danke Ihnen.«
»Gern geschehen, Eure Majestät!«, platzte Pahskal heraus, legte zum
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