Die Uhr der Skythen (German Edition)
so den Kurs. Aber der Freund steht längst auf seinem Kahn, ist wahrscheinlich schon ein halbes Dutzend Mal über die Ems, die heute kabbelig sein dürfte bei dem straffen Westwind, der Fokko auf dem neuen Radweg nach Jemgum vor sich herschiebt.
Das Land ist von einem bleiernen Dunst belegt, der letzte, graue Schnee zieht sich auf die Uferböschungen der Gräben und in die Schattenecken der Zaunpfähle zurück, ein paar verirrte Gänse ziehen erdenschwer über den Zementhimmel Richtung Ems, und die Luft kriecht feucht und eisig unter die Haut, aber wenigstens regnet es nicht.
So ist es häufig gewesen. Auf dem Rad hat er unter dem Gleichmaß der Tritte gegen den charakterlosen Wind und das niederträchtige Wetter die Pogumer Schwermut vergessen – und wie auf einem Perpetuum mobile negativer Gefühle gleichzeitig neu erzeugt, während Fox mit der Gleichmäßigkeit einer Nähmaschine neben ihm fuhr und mit der Philosophie des Radfahrens die seines Lebens entwickelte: Du darfst niemals aufhören zu treten, Fokko. Damals hat er sicher gewußt, daß die endlose öde Weite dieses ersten Weges irgendwann durchradelt sein würde, daß die Zeit der Jugend, die ihm schwer und klebrig anhing wie Schlick an den Füßen, nur eine Episode der Verpuppung sein konnte, um schließlich in das aufzubrechen, was so etwas wie die wirkliche Existenz wäre. Als er aber eine Weile in der Stadt gelebt hatte, kehrte dieses bleierne Gefühl der Leere zurück, ihm kam nicht ein guter Grund in den Sinn, warum er auf der Welt sein sollte, und auch Evas entschlossene Berührungen hielten ihn allenfalls körperlich zurück, im Inneren beklagte er sich über eine merkwürdige Art der Lebensunfähigkeit und rettete sich in dieses alte Bewußtsein, nur auf der Durchreise zu sein, das nächste Stadium der Metamorphose durchstehen zu müssen, um endlich auf das eigentliche Leben zu treffen.
Nun ist er wieder hier und radelt in den Flecken Critzum. Alles könnte ihm vorkommen wie früher, aber nichts ist, wie es war. Das wirkliche Leben, so wird ihm klar, da er an der schiefen Kirche innehält und sich mit Fox an die Weide gelehnt und in verwegenen Reden befangen sieht, das wirkliche Leben ist nicht mehr und nicht weniger als das aussichtslose Warten auf das wirkliche Leben.
Er schaut sich um.
Es ist lediglich das wirklich, was er eben gerade wahrnimmt. Die Möwe beispielsweise, die auf einem Grabstein steht, als besäße sie so etwas wie Besitzansprüche. Das Fahrrad der Mutter und das Werkzeug des Vaters, jedes Ding im Pogumer Haus hat jahrzehntelang in biblischer Geduld darauf gewartet, von ihm berührt und für einen flüchtigen Augenblick aus der Finsternis der ewigen Bedeutungslosigkeit befreit zu werden.
Auf der anderen Straßenseite schlurft ein alter Mann in Filzpantoffeln und viel zu großen Hosen mit einem Korb unter dem Arm vorbei und memoriert halblaut einen Vers. Was zehn Meter entfernt in dessen Kopf geschieht, ist so weit weg wie sonst ein Bewußtsein auf diesem Planeten, da könnte er eher begreifen, welcher Gedanke die Möwe treibt, sich vom Grab zu erheben, um einen eleganten Bogen über den First der Critzumer Kirche zu beschreiben und hinter dem Turm aus der wirklichen Welt zu verschwinden.
Jenseits des Ortes packt ihn der Wind von steuerbord, Fokko neigt sich schräg dagegen, zählt die Tritte seiner Beine, addiert die Drehungen der Tretkurbel, und ehe er noch in das versonnene Gleichmaß der Fortbewegung gefunden hat, das ihn früher kilometerweit durch jedes Wetter getragen hat, rollt er schon in den Windschatten der ersten Häuser von Jemgum.
Auf den ersten Blick ist alles, wie es war. Ein rostrot verklinkerter, löwenzahnfreier Ort. Die Häuser wachsen nahtlos aus den Straßen, und ihre weißen Windfedern zeugen von der Selbstgewißheit, mit der die Menschen sich die Natur untertan gemacht haben, der sie in den Hinterhöfen und den umzäunten Gärten ein eingeschränktes Aufenthaltsrecht einräumen. Die Kirche besitzt denselben Leuchtturm wie die in Ditzum, vielleicht etwas größer, etwas schöner. Und die Zeit ist eine andere. Viertel nach elf.
Wenn er in der jüngeren Vergangenheit wiederholt mit dem Gedanken gespielt hat, man könnte womöglich die Zeit anhalten, so suggeriert diese Idee lediglich den Gedanken, die Zeit sei tatsächlich in Bewegung. Das ist sie bestenfalls in unserer Wahrnehmung, denkt er, fährt auf die Tankstelle, steigt vom Rad und lehnt es gegen einen Zaun. Die Bewegung der Zeit ist nichts als
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