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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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kommt hier unten nicht hin, spielt höchstens mal in den Wipfeln der Buchen am jenseitigen Ufer. Diese Ecke hier wird als erste zufrieren.
    »Herzlichen Glückwunsch!« Das Gekrächze klingt irgendwie ironisch, aber vielleicht liegt das lediglich an den fehlenden Zähnen. Wenn wir nicht länger zubeißen können, wehren wir uns mit dem Gift der Ironie. Fokko tritt an das Bett, streicht flüchtig über die Hand des Knochenmanns, die den keltischen Ring trägt.
    »Danke, Vater.«
    Die einzige Bewegung ist tief in den Augen erkennbar, als hätte man durch einen riesigen Haufen Geröll hindurch Kontakt mit einem Verschütteten.
    »Wie alt bist du geworden?»
    »Ende dreißig.«
    »Wie bitte?«
    »Ich weiß es nicht so ganz genau.«
    »Du weißt es nicht?«
    Das Hüsteln und Röcheln soll offenbar ein herzhaftes Lachen sein.
    »Ich kann es ausrechnen. Oder nachsehen.«
    »Ja.«
    »Es bleibt sich gleich«, sagt er und sucht aus dem Rucksack ein paar Fotografien hervor, die er zu Hause eingesteckt hat, hilft dem Vater mit der Rückenlehne und hält ihm eines der Fotos hin.
    »Erkennst du das?«
    Es ist der von der Flut aufgerissene Deich. Der Totenschädel nickt fast unmerklich.
    »Was ist das?« fragt Fokko als würde er einem Sterbenden verzweifelt die entscheidende Zeugenaussage abringen.
    »Die Sturmflut, zweiundsechzig«, haucht der Vater.
    Fokko zeigt das nächste Foto, von einer Familienfeier, die Frauen mit langen Schürzen in schwarzen Kleidern lachend am Gartenzaun.
    »Erichs Geburtstag«, wispert der alte Mann.
    »Und dies?«
    Ein schlechtes Foto. Nichts als ein verlassener Wüstenstrand, ein hoher, grauer Himmel und dazwischen das Meer als ausgefranster Wollfaden, auf dem ein winziger Fleck klebt, der vermutlich ein Frachter am Horizont ist, den man mit bloßem Auge recht manierlich in die Deutsche Bucht hat dampfen sehen.
    »Borkum«, sagt der Alte heiser, und es scheint, als habe er eine intensive Erinnerung an die Insel. Er ringt nach Worten, eine Träne drückt sich aus dem Augenwinkel, vielleicht nur vor Anstrengung, vielleicht nur ein gutherziges Trugbild, denn er sagt am Ende nicht mehr als: »Schöne Insel.«
    Was mache ich hier eigentlich, fragt sich Fokko mit eins und steckt die Fotografien rasch in den Rucksack zurück. Ein wissenschaftliches Experiment zur Erinnerungsfähigkeit von Todgeweihten? Dem Vater wird das wie ein Fiebertraum aus einem lange abgeschlossenen Leben vorkommen, eine der biblischen Höllenqualen: Seite für Seite wird Schrift und Bild des Goldenen Buches durchblättert, jedes Wort ist aufgeschrieben, jedes Gefühl benannt und seltsamerweise lebendig nachzuleben, als wäre die Lichtjahre entfernte Vergangenheit erstmalig erlebte Gegenwart. Die Vergeltung besteht in der Zahl der Wiederholungen: je nachhaltiger wir etwas empfunden haben, desto häufiger werden wir es vergegenwärtigen müssen. Und das gilt für das Gute wie für das Böse.
    Fokko wechselt mit seinem Vater noch ein paar spärliche Worte über das Essen im Heim und das Wetter hinter dem Deich, dann verabschiedet er sich.
    »Komm bald wieder«, sagt der Alte.
    »Ja.«
    »Lange bin ich nicht mehr hier.«
    Fokko lächelt und nickt.
    »Warten wir’s ab«, sagt er und geht.
    Auf dem Rückweg indes umfängt ihn eine unbeschreibliche Leichtigkeit und Trauer, was seinen Vater angeht. Jetzt kann er in Ruhe sterben. Und wenn er nur seinetwegen nach Pogum zurückgekehrt wäre.

Kapitel 13
     
    Es ist, als wäre es von Anfang an aufgeschrieben gewesen, diesem Haus verkündet, ehe es erbaut war, dieser Küche angetragen in den Jahrzehnten, in denen hier ein anderes Stück gespielt werden mußte, ehe dieser Augenblick nun Wirklichkeit werden konnte, von dem Fokko bereits in seiner Kindheit ein schemenhaftes Wissen besaß, aber ein so klares Bild, als hätte er das, was endlich Gegenwart ist, lange vor seiner Zeit schon einmal erlebt. Es ist eine mächtige Sehnsucht nach dieser Gemeinsamkeit in natürlicher Zurückhaltung, wie in der Familie einer Spezies, die in Liebe und Sinn schon immer beieinander war, ohne je sich selbst hinterfragen zu müssen, ohne etwas anderes zu begehren als diese andauernde Harmonie. Jetzt endlich ist er da, wohin er immer wollte, nichts soll sich mehr verändern, nichts soll größer werden, nichts kleiner. Die Zeit soll stehenbleiben.
    Er holt die Zuckerdose aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch, gießt den Tee auf und räumt das Geschirr in die Spüle.
    »Wie alt bist du geworden?« fragt

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