Die Uhr der Skythen (German Edition)
gehört.
Jetzt fürchtet er, zu spät zu sein, stürzt ins Wohnzimmer und weiß in dieser Sekunde, das Glück wird seine Seele zerspringen lassen, wie das gellende Klingeln das alte Telefon, er reißt den Hörer ans Ohr und schöpft für einen Moment Atem.
»Merreth?«, fragt er still.
Nichts. Am anderen Ende der Leitung glaubt er entfernte Stimmen und ein Klappern im Hintergrund zu vernehmen, aber er hört eine unglaublich lange Zeit nichts. Merreth, so stellt er sich vor, ist just abgelenkt von unaufschiebbaren Dienstgeschäften, hält die zarte Hand über den Hörer, um ihn vor den Banalitäten ihres Arbeitsalltags zu schützen, bis sie Gelegenheit haben wird für ein liebevolles Wort.
»Hallo?«
Das ist um alles in der Welt nie und nimmer Merreth.
»Herr van Steen?«
»Ja?«
Es ist das Heim. Schwester Ulla. Ihre Zeichentrickfilm-Stimme beschwert sich schrill über die vielen vergeblichen Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, am Samstag erstmalig, am Sonntag mehrfach und heute morgen schon wieder zwei oder drei Versuche, nun sei es allerhöchste Zeit, wenn er noch Interesse habe, sich von seinem Vater zu verabschieden, der nämlich ringe das ganze Wochenende lang mit dem Tod.
Wie jemand in seiner Freizeit Segeln geht oder sonst einen Sport betreibt, stellt er sich vor, so hat sich der Vater auf ein makabres Spiel mit dem Schnitter eingelassen, obschon doch jeder weiß, wer am Ende gewinnen wird.
Die unbarmherzige Schwester spricht noch einen abschließenden Satz, aus dem er nichts weiter heraushört als das grelle Wort unverzüglich und den unausgesprochenen Vorwurf, daß er sich einen Jux daraus macht, das Telefon klingeln zu lassen, während sie die Arbeit mit dem sterbenden Vater hat.
»Bin sofort da…«, sagt er und legt auf.
Aber wie? Selbst wenn er in Ditzum prompt einen Bus erwischt, wird er etwa eine Stunde unterwegs sein, mit einem Taxi wird es kaum schneller gehen, das kommt vermutlich erst aus Jemgum. Die Zeit läuft ihm davon. Schon deswegen, weil er keine Vorstellung davon hat, wie dringlich die Angelegenheit tatsächlich ist, ob es auf jede Sekunde ankommt oder ob die Schwester dem Gevatter Schnitter nur ihre biblische Ungeduld andichtet.
Er rennt in den Flur und schaut nach der Standuhr. Zwanzig nach zehn. Die Zeit, so geht ihm durch den Kopf, hat sich sowieso radikal entschleunigt, sie kommt ihm schleichend entgegen, da er sich auf den Weg machen wird, an das Sterbebett des Vaters zu treten. Er weiß nicht so recht, ob er das wirklich will, rechtzeitig kommen, ob es nicht eleganter wäre, Schwester Ulla würde ihm mit gedämpfter Micky-Maus-Stimme mitteilen müssen, der Herr Vater sei leider just vor einer Viertelstunde sanft entschlafen.
»Nein«, spricht er und schüttelt vehement den Kopf. Er wird ihm noch ein letztes Wort sagen, ihm die Hand halten, Abschied nehmen, sonst wäre er ein Dreck. Da kommt ihm die Idee. Nun weiß er, wofür die Zauberuhr tatsächlich einmal gut ist. Er holt sie aus der Zuckerdose und klappt sie auf. Die Welt steht still, und der Gevatter muß sich in Geduld üben.
Es ist ein disparates Gefühl zwischen vollkommener Freiheit und gespenstischer Irrfahrt, als er durch die stillstehende Welt nach Leer radelt. Den ersten Teil des Weges nimmt er auf dem Deich, da ist wenig anders als sonst, lediglich ein paar Schafe sind beim Grasen von einer Schrecklähmung befallen worden, auf der Bordwand eines Binnenschiffes ist der Wellengang des Flusses aufgemalt, und die Fahnen im Jemgumer Hafen strecken sich zur Ems hin, als ginge der Nordwest.
Als er aber bei Bingum auf die Bundesstraße fährt, ist die Brücke komplett zugeparkt, im Slalom fährt er zwischen den Fahrzeugen hindurch, in denen reglos und stumm Menschen sitzen, als wären sie von einer schrecklichen Giftbombe kristallisiert. In der Stadt ist jedes Leben zum Stillstand gekommen, die absolute Stille legt sich auf das Herz, das als einziges in seiner Brust puckert und die Vorstellung macht ihm Angst, die gottverlassene Existenz in der untoten Welt könnte für immer so sein, nimmermehr ein Wort, eine Berührung.
Die Uhr hat er geöffnet in ein Handtuch geschlagen und in eine Zigarrenkiste gepackt, die er sorgfältig auf dem Gepäckträger verschnürt hat. Als er das Rad vor dem Heim abstellt, überlegt er, was er machen soll. Wenn er die Zauberuhr jetzt schließt und eintritt, werden kaum einmal fünf Minuten vergangen sein, seit die Schwester ihn in Pogum angerufen hat. Das wäre eine
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