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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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bemerkenswerte Hexerei. Andererseits wird er die Uhr jetzt nicht schließen und eine Stunde durch das Städtchen flanieren, um eine realistische Frist verstreichen zu lassen, in der sein Vater dann vielleicht doch noch vorzeitig versterben würde.
    Er nimmt die Zigarrenkiste vom Gepäckträger und schlängelt sich durch das eingefrorene Heim, an zu Tode verlangsamten Senioren und in bedeutsamen Bewegungen versteinerten Schwestern vorbei zum Zimmer seines Vaters.
    Niemand ist bei ihm. Fokko setzt sich ans Bett und packt die Uhr aus. Wenn er sie nicht wieder schließt, wird sein Vater nicht sterben. Wenn er sie schließt, beschleunigt er quasi den Tod. Fokko schüttelt den Kopf. Es gibt überhaupt kein Bezugssystem. Der sterbende Vater erlebt nichts Alternatives und wird nur um den eigenen Tod betrogen.
    »Blödsinn«, murmelt er und schließt die Uhr.
    Im Display des Telefons auf dem Nachttisch ist die Zeit zu lesen: gleich halb elf. Der alte Mann nimmt ihn nicht wahr. Sein Gesicht ist stärker eingefallen als zuvor, die Augen sind wie verklebt und sein Atem geht durch den geöffneten Mund wie ein abflauender Wind.
    Fokko nimmt die knöcherne Hand. Sie ist todeskalt.
    »Weißt du noch Papa, wie der Tommy mit seinem Flieger…«
    Auch wenn vom Vater keine andere Reaktion zu erwarten ist als der schwache Atem, so erzählt Fokko jetzt alle alten Geschichten, die tausendfach wiederholten Anekdoten, die bebilderten Familienlegenden und spricht von angesparten Ungerechtigkeiten, die sich in diesem Moment als große Albernheiten erweisen, aber die Worte sind, so kommt es ihm vor, ein heilendes Balsam, ein todbringendes in diesem Fall. Wahrscheinlich versteht der Vater kein einziges Wort, aber seine aufbrechende Seele, das letzte, was ihn noch an die iridische Vergangenheit bindet, wird begreifen, daß jemand an seiner Seite ist, um ihn zu verabschieden.
    Irgendwann kommt eine fremde Schwester herein.
    »Das ging rasch«, sagt sie.
    »Ja«, antwortet Fokko, ohne zu wissen, was sie eigentlich meint. Es mag fünf Wochen her sein, daß er aus der Stadt zurückgekehrt ist. Wie auch immer, die Zeit hat sich gelohnt. Er nimmt seinem Vater den keltischen Ring aus Fischknochen vom Finger und steckt ihn sich auf. Er paßt genau.
     
    Auf dem Rückweg stört ihn das Getöse auf den Straßen. Er öffnet die Zauberuhr wieder und radelt gemütlich zwischen all der eingefrorenen Unruhe die Landstraße hoch. Daran könnte er sich gewöhnen. Erst zu Hause klappt er die Uhr wieder zu. Es ist, als wäre er überhaupt nicht weggewesen, wahrscheinlich könnten die Nachbarn das bezeugen. Aber er ist um mindestens zwei Stunden erschöpfter als sie.

Kapitel 14
     
    Den Tod des Vaters hatte er wohl erst begriffen, als der eichene Sarg an einem schönen Februartag in der Borkumer Erde versank. Das Sonnenlicht spielte ein flatterhaftes Spiel in den immergrünen Pflanzen und auf den erdschweren Grabsteinen, sammelte sich auf den Waschbetonplatten, die zur Seite gestapelt waren, das Wort des Pfarrers ging durch ihn hindurch wie der schwache Wind durch die kahlen Kronen der beiden Birken, die sich gnädig über den Friedhofseingang neigten. In vier Wochen würde er wiederkommen, ein paar Talismane des Vaters auf der Grabstelle verteilen, damit sie seine Ruhe schützen, ein paar Ableger vom Efeu pflanzen, das er so geliebt hat.
    Selbst der alte Hamelmann hatte sich aus seiner bibliophilen Klause bemüht, Merreth und Helene in ihren schwarzen Kleidern waren, wie Fokko fand, dem todesbitteren Anlaß ein Gegenentwurf von erotischer Lebendigkeit, eine zauberhafte Fehlbesetzung in der Liturgie des allerletzten Weges, eher mochten da die drei knorrigen Alten von der Werft auf den Gottesacker passen, die wie Totengräber aussahen. Hinrich, als es vollbracht war, ließ die Kapitänshand auf Fokkos Schulter fallen und sagte: Nu biste allein auf der Welt, Smutje!
    Wie eine flugunfähige Krähenschar stakste die kleine Trauergemeinde in den Ort zurück, fiel in das friesische Teehaus ein, die drei Arbeitskollegen machten sich über den Kuchen her, als säßen sie in einer Versammlung der Schiffsbaugewerkschaft, Merreth und Helene verbreiteten mit ihren stillen Worten eine heilvolle Fröhlichkeit, und der alte Hamelmann sprach ihn ungeniert auf die Uhr der Skythen an, als ginge es um nichts anderes als ein seltenes Buch.
    Er habe die Idee gehabt, antwortete Fokko, die Uhr dem Vater mit in den Sarg zu geben, womit er gewiß eine Art ewiger Ruhe vor den ungeliebten

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